Operation Ljutsch

Der geheime Schlüssel zur Deutschen Einheit

Roman

Band I  Ausfahrt

Band II Heimkehr

Leseproben Band II Heimkehr

  • Teil Fünf: Rückzugsstrategien

    Kapitel 32: Oberst a.D. Bruder Nikolai – Mönch im Höhlenkloster Nishnij Nowgorod

    „Der neunte November war dann wirklich das ultimative Datum eurer Gegner, wie es Konstantin Petrow mit der Kanzler-Visite in Warschau politisch eingeordnet hat?“ warf Nussbaum ein.

    „Ja so war es, – über das Zeitfenster für den Putsch, haben wir seit dem Sommer gerätselt. Das Heft des Handelns ist ja immer in Händen derer, die angreifen und damit den offensiven Vorteil nutzen. Auf diesen Angriff musst du vorbereitet sein, – egal, wann die starten. Aber dann ergab sich doch eine verblüffend logische Kette geschichtlicher Indizien, die uns sicher machte, dass es dieser Tag sein würde.

    Eine deutsche Kette gewissermaßen, denn in Berlin sollte die Aktion ja starten und quasi die Initialzündung für den Umsturz im Ostblock werden, – soviel war klar.

    Die ostdeutschen Genossen Putschisten wollten strategisch, so sah ich es anfangs, – für den Fall, dass es gelingt, und auch dass was schief geht – in der deutschen Geschichte abtauchen. Jeder Putsch gegen das Volk ist ja a priori anrüchig.

    Dieser neunte November soll so ein bedeutungsschwerer Tag sein bei euch – die Reichs-Pogromnacht ist wohl so ein Ereignis?“

    „Republik. – Auch die Gründung der Republik nach dem Ersten Weltkrieg“, warf Nussbaum ein.

    „Und die Ausrufung der sozialistischen Republik durch Liebknecht, am gleichen Tag, – und auch der Putschversuch von Adolf dem Letzten, dem Österreicher, in München, – fünf Jahre später“, ergänzte Oie. „Da liegen einige Wurzeln, die zu Ausgangspunkten späteren Unheils wurden. – Das hätte den Putschisten eigentlich zu denken geben müssen, Nikolai.“

    „Ja, wenn alle so abergläubisch gewesen wären, wie wir Russen. Da war aber noch etwas viel Wichtigeres. Der damit korrelierende, strategische Hauptgrund war wirklich ein anderer“, spann der Mönch den Faden aus. „Es war dieser von Konstantin Petrow erwähnte Staats-Besuch des Deutschen Kanzlers, mit großem Tross, in Polen, der am neunten November startete und wie jeder Staats-Termin langfristig festgezurrt war.

    Damit haben unsere Gegner kalkuliert, denn bei jedem blutigen, erfolgreichen Putsch in der Geschichte geht es um die ersten Stunden und Tage: Da wird durchgegriffen, da gibt es das große Blut-Bad, da werden die Fakten geschaffen, – im Lande und diplomatisch.

    Und gerade da befindet sich Kanzler Kohl, der Haupt-Betroffene, der nach eigenem Verständnis Vertreter aller Deutschen, der Repräsentant und Regierungschef des wichtigsten NATO-Partners am Eisernen Vorhang, quasi unter Hausarrest in Warschau. Natürlich nur zu seiner eigenen Sicherheit. Natürlich auch, weil der Luftraum gesperrt ist und alle Kommunikationsverbindungen gekappt sind, – so hätten es die Putschisten diplomatisch begründen können.

    Auch der polnische Präsident Jaruzelski wäre dann als Ansprechpartner nicht mehr vorhanden gewesen, denn er war ja, als ein Freund Gorbatschows, – der Kopf des polnischen Wandels und auch der Operation Morgenlicht, in dieser Europäischen Perestroika. Der wäre sofort von der Bildfläche verschwunden.

    Kanzler Kohl im Vakuum – als Faustpfand zum Vorteil der Putschisten –, das sollte der konspirative Geniestreich sein. Alles auf Null war der Plan der Gorbatschow-Gegner.

    Ein Marschall wird sowjetischer Partei-Chef, und die Komitees zur Rettung des Friedens und des Sozialismus hätten im ganzen Ostblock mit dem Ausnahmezustand durchregiert, – eine weitere Eskalation des Kalten Krieges zwischen Ost und West in Kauf nehmend.

    Der Westen hätte – wie immer – mit weiteren Sanktionen gedroht, wäre aber froh gewesen, dass die Lage nicht eskaliert und er seinen Vasallen-Kanzler Kohl unbeschadet wieder bekommt, – nach ein paar Tagen, ausgereist über Schweden.

    Niemand wäre inzwischen aufmarschiert und hätte einen Krieg begonnen, denn alle

    Machthaber liebten den Status quo und ihre gesicherten Rollen im Spiel der Mächte. Vor allem fürchteten alle Politiker und Strategen unkontrollierbare Ereignisse, besonders den

    ganz großen atomaren Knall.“

    „Das klingt ungeheuerlich, aber strategisch perfekt, muss man sagen. Du hast recht Nikolai, – die NATO wäre sicher nicht losgeflogen, nur um den Bundeskanzler rauszuhauen.

    Doch wie konntet ihr dem begegnen, wie lief es dann in Berlin weiter?“, versuchte Oie den Spannungen dieser Tage nachzufühlen.

     

  • Teil Neun: Finale Operation Lichtstrahl (Ljutsch)

    Kapitel 43: Operation Lichtstrahl öffnet die Mauer

    Einführung

     

    Die Protagonisten des Romans, Hauptmann a.D. Samuel Nussbaum und der Künstler Albrecht van Oie, sind von ihrer Reise durch Ost-Europa, zu den Zeitzeugen der ‚Licht-Operationen‘ zurück in Berlin.

    Sie treffen den in Igor Antonows Liste verzeichneten Oberst a.D. der Militäraufklärung der NVA, Herbert Gros, und fahren mit ihm auf dessen Landsitz in Lanke bei Berlin.

    Dort begegnet ihnen auch ein alter Freund Oies, der ehemalige Forscher an der ‚Akademie für Gesellschaftswissenschaften Berlin‘, Dr. Alexander Schmied.

    Albrecht van Oie und Samuel Nussbaum zeigen den beiden den Zusammenschnitt der Aussagen der Offiziere der Abwehr in den Militärgeheimdiensten der besuchten Länder.

    Im anschließenden Interview werden von Oberst a.D. Gros, einem Dirigenten der Licht-Operation in der DDR, die Ereignisse und Zusammenhänge im Umfeld der Maueröffnung dargestellt.

    Verblüffende Zusammenhänge eines perfekten strategischen Planes zum großen Frieden in Europa, und seiner operativen Absicherung, werden deutlich.

     

     

    Auszug Kapitel 43

     

    »Lage. – Wie war das Umfeld für euch im Militär-Geheimdienst, – und wie die Lage in den Streitkräften, von der ich als Spezialist und Kryptologe in Berlin wenig mitbekam?«, gab Samuel hinter der Kamera ein neues Stichwort.

    »Zur mentalen Lage bei den oberen Dienstgraden der Armee und auch in unserem Dienst muss man grundsätzlich wissen: Bis Mitte der Achtzigerjahre hatten über dreitausend Offiziere der NVA – vom Major aufwärts – ein Zusatzstudium an sowjetischen Militär-Akademien absolviert. Fast fünfhundert besuchten dort die Generalstabsakademie.

    Sie waren ideologisch gefestigt, wie man damals sagte – also frei von Zweifeln, was das System, die führende Rolle der Partei aber auch das absolute Primat der sowjetischen Genossen bei politischen und militärischen Entscheidungen angeht.

    Viele von ihnen waren aus einfachen Verhältnissen aufgestiegen – sie verdankten der Partei und dem System alles. Zu einer Wende von oben oder zu einem Putsch hätte sich das Offiziers-Korps, als letztinstanzliche Ordnungsmacht, grundsätzlich erst nach einem Parteitagsbeschluss entschieden.

    Deshalb, das muss man zugeben, hatten wir anfangs entsprechende Schwierigkeiten, Offiziere für die Abwehr im Militär-Geheimdienst zu rekrutieren. Das persönliche Misstrauen und die Verunsicherung waren groß – und wuchsen mit den verfahrenen Verhältnissen im Lande ständig weiter.

    Wer von den Offizieren und hochprozentigen Genossen konnte freiwillig an der Abwicklung des herrschenden Systems der Partei arbeiten, wenn er nicht an den menschlichen Sinn der Perestroika glaubte und gleichzeitig die wirtschaftliche Unabwendbarkeit nüchtern-logisch zu bilanzieren wusste?

    Das konnten nur wenige – in Breite eigentlich nur die Fachleute aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, weil sie die Lebensunfähigkeit eines derart ineffizienten, sich selbst täuschenden Systems in ihrem Verantwortungsbereich täglich sahen. Auf die konzentrierte sich die Abwehr und gewann dort bis zur Wende Hunderte von Einflussagenten, von denen ihr einige auf Igor Antonows Liste seht.

    Aber auch unsere Gegner, die Altstalinisten – die gläubigen Genossen in Endkampfstimmung aus Partei und Staatssicherheit – bliesen zu der Zeit zum Sammeln und hatten eine Datei, namens SOUD, die alle Personen auflistete, die im Ernstfall, und bis zur letzten Kugel, zur Partei stehen würden. Diese Genossen kannten wir und waren so vorbereitet, wer durch den Militär-Geheimdienst aus dem Verkehr zu ziehen ist, wenn die Entwicklung final aus dem Ruder laufen sollte.

    Nebenbei gesagt und auch schon in eurem Film mehrfach angesprochen: Seit die Abwehr im Ostblock die Fäden zog, versuchten uns der KGB und die Staatssicherheit durch ihre Verwaltung Zweitausend – die Spionageabwehr – ironischerweise im Rahmen einer Operation Freunde aufzuklären, mit mäßigem Erfolg, wie wir heute wissen. Sie rochen, dass da was läuft im Militär-Geheimdienst, hatten aber kein Bild, denn irgendwie sprengte es den Rahmen ihrer Fantasie, glaube ich.

    Aber – und das machte uns sicher – im Ernstfall hatten unsere Leute beim sowjetischen Militär-Geheimdienst in Moskau eine Reißleine: die absolute Kommando-Hoheit.«

    »Rivalität. – Das hat Nikolai Ossipow schon sehr klar dargelegt«, fiel Samuel ein. »Diese Rivalität zwischen Staatssicherheit und Militär-Geheimdienst, die ihre Wurzel in der Ohnmacht der Herrscher der politischen Polizei gegenüber dieser faktisch nicht angreifbaren Macht des Militärischen hatte, gab es auch bei uns. Das merkte ich besonders am nervös-paranoiden Ton im decodierten Nachrichtenverkehr der Stasi, als die Lage zur Wende eskalierte.«

    »Ja, das geht schon auf die Anfänge der DDR zurück. Da wurde unser Dienst, besonders der alte Verteidigungs-Minister General Hoffmann – eine Widerstandsikone und überlebender Spanienkämpfer – von denen umfangreich observiert. Belastungsmaterial wurde gegen den barocken Militärfürsten angehäuft – und dann wieder fallen gelassen, weil ein Eingriff in die militärische Sicherheit, wie die Russen es sahen, nicht geduldet wurde. Unser Militär-Geheimdienst war für die Staatssicherheit absolut unantastbar.

    Das wirkte nach bis in die Wende und zur Deutschen Einheit, vor der wir uns vollständig selbst auflösen und alle wichtigen Unterlagen vernichten konnten. Es war aber eine von den Sowjets so gesetzte Bedingung und wesentlicher Teil der Verträge zur Deutschen Einheit, da ansonsten auch ein Teil ihrer sensibelsten militärischen Geheimnisse abgeflossen wäre. Das nur am Rande zu den wahren Kräfteverhältnissen im Hintergrund, die kein gewöhnlicher Genosse, und schon gar kein Bürger durchschauen konnte.

    Wir im Militär-Geheimdienst, in der Abwehr, wollten eine gewaltlose Entwicklung zu einer Europäischen Perestroika, hatten alle Anzeichen von innerer Eskalation im Auge und förderten, wo wir konnten, konspirativ das Tempo der Veränderungen!«

    »Kreml-Flug. – Welchen Anteil hattet ihr am Anfang bei den Operationen zum Kreml-Flug, mit denen ja offensichtlich alles begann?«, lockte Nussbaum.

    »Einen großen Anteil, denke ich mal – schon weil für unsere Leute im Einsatz keine kulturellen Barrieren zu überwinden waren. So genannte Spezial-Kampfkräfte unserer Militäraufklärung agierten seit Langem in großer Zahl in der Bundesrepublik – zur Beobachtung von Ziel-Objekten, zum Aufbau von Verbindungsnetzen und zum Anlegen von Depots.

    Jeder Provinzflughafen, jeder Sportflugplatz hatte einen dort präsenten Schläfer mit ständigem Einblick in die Flieger-Szene und den Flugbetrieb, der auf Anforderung Informationen lieferte oder in Aktion trat. Da brauchten wir nur einige zu wecken. Das kam uns in der konspirativen Vorbereitung der Kreml-Flüge sehr zugute. Jede der vorbereiteten Operationen hat im Zusammenspiel mit Igor Antonows Truppe organisatorisch davon profitiert.«

    »Konkret. – Wie ging das konkret für den Kreml-Flug?«

    »Die Informationen, die wir von unseren Agenten zum Flieger Rust bekamen, klangen gut. Es hieß, da ist ein ambitionierter, junger Pilot, dem ein Friedensflug nach Moskau zuzutrauen ist – ein introvertierter, jugendlicher Fantast, unerschrocken, diskret und mit Potenzial. Das nutzten wir dann zum konspirativen Spiel über drei Bande in der Vorbereitung und Absicherung – wie es ja schon Oberst Ossipow in eurem Film berichtete.

    Nach einigem jugendlichen Unverstand und auch Bedenken hatte unser Betreuer Ihn soweit. Er schrieb nach dem ernüchternden Treffen zwischen Gorbatschow und Reagan auf Island einen langen Plan für Völkerverständigung und nukleare Abrüstung – seine Vision von einer Welt des Friedens Lagonia, denn er wollte damit eine Brücke schlagen zwischen West und Ost, der Entwicklung zum Frieden auf die Sprünge helfen, so hörten wir.

    Als er dann über Island nach Helsinki abgeflogen war, hat die Abwehr übernommen und dafür gesorgt, dass bis Moskau nichts dazwischenkam.

    Wir in Deutschland haben dann nur noch bei der medialen Abschirmung des Kreml-Fliegers nachgeholfen. Das wurde durch unsere Leute organisiert, als die Weltpresse versuchte, sich darauf zu stürzen. Meine Moskauer Partner haben das schon während seiner Haft klar gemacht und ein deutscher Fotograf hat dafür gesorgt, dass die Exklusivrechte bei der Zeitschrift Stern landen.

    Das war überaus wichtig, denn niemand wollte eine überbordende Berichterstattung und schon gar keine Medienhatz – wir und die Sowjets wollten nur kultivierten, kontrollierbaren Boulevard in dieser Sache, bei dem es keine Chancen zum Nachhaken gab. Darum kümmern sich die alten Freunde bis heute, wie man hört.«

    Alexander, der sein Erstaunen über diese Details bekundete, schenkte aufmunternd Bier ein, – und Oie setzte nach. »Was waren aber eure Aufgaben in diesem entscheidenden Jahr der Wende?«

    Herbert Gros schien auf die Frage gewartet zu haben, denn er wurde sichtlich bewegter und wollte sich erheben, sodass Nussbaum hektisch auf die Kamera wies, um ihn nicht aus dem Bild zu verlieren.

    Der Oberst begriff und setzte sich zurück ins Bild.

    »Finales Operationsjahr für die Beseitigung des Eisernen Vorhangs, die Europäische Perestroika und die Beendigung des Kalten-Krieges war planmäßig dieses Jahr der Wende. Der politische Umbau in Ungarn wurde durch den Machtwechsel an deren Parteispitze beschleunigt – aber es waren immer noch viele der alten Kader in Militär und Sicherheitsdiensten in Amt und Würden.

    Deshalb mussten Teile der ungarischen Schlaglicht Operation besonders sensibel eingefädelt werden. Dazu habe ich im Juli Igor Antonow zur Inspektion der Grenzanlagen in Ungarn begleitet. Oberst Ossipow kam aus Moskau dazu.

    Ihr staunt, denn es klingt heute sicher wie ein Witz, aber die mentale Disposition eines DDR-Bürgers mit Flucht-Ambitionen war durch mich in diese Runde einzubringen. Keine einfache Aufgabe für einen gelernten Staatsbürger und Offizier, noch dazu in Uniform.

    Das merkte ich aber erst vor Ort, denn irgendwie hielten die Russen uns Deutsche immer noch für absonderliche Tiere. Einst verbissener Gegner – jetzt, als Freunde und Waffenbrüder bodenständig, fleißig und nüchtern abwägend bis in die politische Hasenfüßigkeit – traute man unserem Stamm wenig Spontanes zu. Schon gar nicht in so wichtigen, medial wirksamen Massen von Flüchtlingen – und genau zum geplanten Zeitpunkt auf diesem Volksfest in Ungarn

    Dazu kam: Nichts durfte aufgrund der Bedingungen vor Ort schief gehen.

    Dafür suchten wir mit den ungarischen Offizieren der Abwehr nach dem optimalen Grenzabschnitt und dem idealen Platz für das von Nikolai Ossipow und Oberst Horvath geplante Paneuropäische Picknick, an dem erstmals offiziell die Grenze zu einer Österreichisch-Ungarischen Begegnung geöffnet werden sollte – in Wahrheit aber für DDR-Flüchtlinge.

    Es ging dabei – damit die Aktion ein überzeugender Erfolg wird – auch um die möglichst wirksame Streuung von Tausenden Flugblättern unter DDR-Touristen in ganz Ungarn. Mental eingeschüchtert und als gebrannte Kinder der Geschichte eben hasenfüßig, hatte doch jeder der potenziellen Flüchtlinge von Versuchen gehört, die an Mauer und Stacheldraht gescheitert waren – und anschließend im Gefängnis endeten. Deshalb mussten wir dem Zufall goldene Brücken bauen, wie die Ungarn sagen.

    Eben gerade bei unseren disziplinierten Deutschen bestand Unsicherheit, ob sie diese eindeutige Chance des Picknicks begreifen und ergreifen, die wir ihnen boten und deren Ergebnisse wir so dringend brauchten, um die Entwicklung weiter zu beschleunigen.

    Die etwa siebenhundert Flüchtlinge an diesem Tag waren dann der weltweit beachtete Auftakt zum Fall des Eisernen Vorhangs und ein voller Erfolg. Das Signal an Tausende von Ausreisewilligen, die sich in der Folgezeit um die Botschaften in Budapest, Prag und Warschau stauten – und die sich für die Funktionäre der betroffenen Länder planmäßig zu einem unerträglichen Politikum auswuchsen.

    Das Ganze kochte aber besonders hoch, weil regelmäßig nach Westen verkaufte Häftlinge und ausreisende Staatsbürger zu dem Zeitpunkt schon Teil der Devisen–Rechnung des Partei-Apparates waren. Alle, die versuchten, das Land illegal zu verlassen – und schon ein Ausreiseantrag galt quasi als nicht legal - wurden ja vom System als Rechtsbrecher betrachtet.

    Etwa hunderttausend D-Mark wurden zu dem Zeitpunkt üblicherweise für einen aus der Staatsbürgerschaft oder Haft entlassenen, qualifizierten Sträfling gezahlt – als Abgeltung der Ausbildungskosten, wie es verbrämt hieß.

    Diese erste wilde und massenweise Ausreise über Ungarn im August war deshalb für die DDR-Oberen eine schmetternde Niederlage – und sollte sich um keinen Preis wiederholen.

    Das war dann Ende September der damals rätselhafte aber wirkliche Hintergrund für das sture, zeitfressende Beharren auf der Forderung, alle Botschaftsflüchtlinge in Prag und Warschau müssten per Eisenbahn-Transit über die DDR ausreisen.

    Man hoffte damit – vor allem über die Aufnahme der Personalien, die dann in den Zügen nur im hektischen Einsammeln der Ausweise bestand – noch nachträglich eine Verhandlungsmasse zu generieren, die bei den unausweichlich anstehenden Verhandlungen Schalck-Golodkowskis über weitere West-Kredite in die Waagschale geworfen werden sollten.«

    »Ja, ich hörte damals im Partei-Apparat, es ginge um Milliarden«, warf Alexander ein, »unglaublich, aber nach den eingeführten Spielregeln im deutsch-deutschen Fingerhakeln und den Zehntausenden Flüchtlingen realistische Größenordnungen.

    Deshalb sollte ja, nach den Vorstellungen einiger Ober-Genossen, der Devisen-Beschaffer Schalck-Golodkowski neuer Ministerpräsident werden – denn davon versprach man sich die schnellsten Erfolge auf dem Weg aus der Schulden-Falle, eben auch mit dem Hintergrund des geplanten nachträglichen Flüchtlingsverkaufes als dringend notwendiges Startkapital für den Machtwechsel und die neue Riege der Funktionäre.

    Dieser Großmeister des Embargo-Slaloms im Kalten Krieg, der die DDR-Wirtschaft einige Male vor der latent drohenden Zahlungsunfähigkeit gerettet hatte, war ansonsten am Ende mit seinem Latein, denn das System hatte über eine Generation von der wirtschaftlichen Substanz gelebt.

    Einige der regierenden Partei-Fürsten fürchteten aber das auf Effizienz getrimmte Denken dieses Mannes – und damit drohende Konsequenzen für die eigenen Machtpositionen in diesem ideologisch verkalkten Apparat, der kein Problem mehr lösen konnte.

    Deshalb wurde er von der Spitze der bedrohten, neue etablierten Parteiführung denunziert, bloßgestellt und in den Augen der Bevölkerung so diskreditiert, das er Anfang Dezember – als Sündenbock mit Haftbefehl gesucht – die Flucht nach Westen antrat.«

    Der Oberst bestätigte: »So war es, Alexander! Und dass er bis zum Schluss beste Kontakte mit den Leuten von Franz-Josef Strauß hatte, vereinfachte die Sache für ihn persönlich.

    Den innenpolitischen Aufruhr in der DDR, beim Transit der Flüchtlingszüge, den wir im Militär-Geheimdienst vorhergesehen hatten, nahmen die SED-Bonzen damals zähneknirschend in Kauf. Sie merkten dabei überhaupt nicht, dass sie uns und der strategisch geplanten Entwicklung einen großen Gefallen taten.

    Die massenweise Ausreise über Ungarn, Warschau und Prag bis in den Herbst, brachte folgerichtig das sklerotische Honecker-Regime ins Wanken. Besonders der Spruch, dass man den Ausgereisten keine Träne nachweine – obwohl viele Fachkräfte mit ihren Kindern darunter waren, die man im Lande dringend brauchte – diskreditierte es vollends bei den Bürgern und auch den eigenen Partei-Genossen.

    Verzögert noch durch die Jubelfeierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der DDR und begleitet von Bürgerprotesten in allen Teilen unseres Landes, kam es dann, Mitte Oktober, zum erwarteten Machtwechsel an der Spitze der Einheits-Partei mit dem neuen Parteichef Egon Krenz.

    Auch bei diesem Machtwechsel standen wir im Militär-Geheimdienst auf der Bremse, denn die Honecker-Fraktion – also alle Paladine an den Fleischtöpfen der Macht – trug sich mit Vorbereitungen für einen Palast-Putsch gegen ihre Absetzung. Einen Putsch, wie ihn Honecker achtzehn Jahre zuvor schon erfolgreich gegen die herrschende Ulbricht-Gruppe inszenieren konnte. Ich habe das damals als junger Offizier erlebt. Das ging bis zu Blockaden und Prügeleien in der Parteizentrale – bis Ulbrichts Leute quasi unter Hausarrest gestellt wurden.

    Wir, im Militär-Geheimdienst, haben die Sicherheits-Abteilung der Parteizentrale vor der Wiederholung diesen Szenarien gewarnt.«

    »Wir, meint jetzt?«, setzte Oie nach.

    »Den Militär-Geheimdienst als Organisation, denn die Aufgabe bestand in der heißen Phase immer darin, alle entscheidenden Leute im Apparat zu orten, die mit einer gewaltsamen Lösung der inneren Probleme liebäugelten. Das waren mittlerweile, aufgeschreckt durch die Groß-Demonstrationen im ganzen Lande, nicht wenige in Partei und Sicherheitsapparat, denn der Möchtegern-Reformer Krenz und seine Leute saßen bereits bei Machtantritt zwischen allen Stühlen.

    Den Alt-Stalinisten ging alles schon längst zu weit, den Reform-Sozialisten nicht weit genug und die Normalbürger – insbesondere die Fachleute, von denen alles in der Wirtschaft abhing – fürchteten die einen und misstrauten den anderen.

    Besonders nachdem der beauftragte Wirtschaftsexperte Schürer auf einer ZK-Tagung Ende Oktober den so lange offiziell bestrittenen und verheimlichten katastrophalen ökonomischen Niedergang bilanzieren musste, sah die Kaste der Ober-Genossen ihre Felle davon schwimmen.

    Eine Expertengruppe, in der auch Leute der Abwehr arbeiteten, hatte erstmals ein ungeschminktes Bild der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung in allen Schwerpunkt-Bereichen erarbeitet, das dann absichtsvoll einem Katastrophen-Szenario glich, vor allem um die noch immer systemgläubigen Gerontokraten zu erschüttern.

    Zudem war – als Quintessenz – der weitere Absturz durch die sich potenzierenden Wirkungen der CoCom-Embargos in der technologischen Entwicklung und im alles entscheidenden Außenhandel absehbar.

    Diese Prognose war Teil des von Schürer vorgetragenen Offenbarungseides, vor allem in der West-Verschuldung. Berechnet und faktisch unabwendbar – das sahen alle, die es sehen wollten. Letzte Rettung erhofften sich aber die blinden, altgläubigen Genossen trotzdem und wie immer aus der Sowjetunion.

    Wie schon in euren Aufzeichnungen erwähnt: Am ersten November war Krenz in Moskau, um sich, in Unkenntnis und wohl auch Verdrängung der wirklichen Interessenlage des Großen Bruders, als neuer, besserer Vasall zu präsentieren und gleichzeitig Hilfe in seiner prekären Verschuldungssituation zu erbitten. Horrende Zahlungen für Westkredite waren demnächst fällig – und die Devisenkasse der DDR war fast leer.

    Nachdem er in dieser Frage keine Zusagen bekam, wurde er davor gewarnt, sich an einer gewaltsamen Lösung zu beteiligen – die Sowjet-Armee würde in keinem Fall eingreifen, um ihnen zu helfen.

    Mitreisende Hardliner unter den DDR-Genossen hofften dabei wohl bis zur Abreise der Delegation auf andere Informationen aus KGB- und Militärführung, denn deren offene Zweifel am deutschen Kurs Gorbatschows waren bis nach Berlin gedrungen.«

    »Massen. – Auf der Seite des Apparates war erst mal Klarheit«, unterbrach Nussbaum. »Aber wie war von euch die Einbindung der Massen, der Bürger, in diesen friedlichen Wandel geplant?«

    »Gute Frage: An der Spitze der vorrevolutionären Phase, der letzten Monate vor der Maueröffnung, in der DDR war nicht das Volk, die Mehrheit. Revolutionen werden immer von Minderheiten vorangetrieben. Sie richten sich sowohl gegen die Macht der Regierenden als auch gegen das Schweigen der zögernden Mehrheit, die noch zu überzeugen ist. Diese vorrevolutionäre Minderheit muss man besonders fördern – vor allem, indem man verhindert, dass sie scheitert.

    Wie sagte der Comte de Mirabeau am Vorabend der Französischen Revolution: ›Den Wagen der Revolution kann man nicht aufhalten, – man muss draufspringen, um ihn zu lenken.‹

    Wir haben die Bremsen des Wagens gelöst und wir haben den Antrieb unterstützt, bis er Fahrt aufgenommen hatte – dann sind wir draufgesprungen und haben aufgepasst, dass niemand, dem wir absichtsvoll die Zügel in die Hand gedrückt hatten, die Richtung verlor und auf versteckte Mienen unserer Gegner lief.

    In diesem Fall – mit der Gunst der Stunde – hatten die Bürgerrechtler rund um das Neue Forum die Zügel in die Hand bekommen.

    Allerdings war das eine sehr heterogene Truppe. Eine Opposition mit kleinstem gemeinsamem Nenner, denn die wussten vor allem, was sie nicht mehr wollten: den vormundschaftlichen Staat, mit all seinen wirtschaftlichen, geistigen und persönlichen Beschränkungen. Das war die mehrheitsfähige Grundhaltung, die ihnen einen wachsenden Zulauf aus allen Schichten der Bevölkerung bescherte – wenn auch die Intellektuellen überwogen.

    Bei den Zielprojektionen allerdings gab es jede Menge unausgegorener Differenzen, je nachdem wer als geistiger Vater, Beschützer oder finanzieller Förderer des Westens im Hintergrund stand. Mutige Idealisten aus der Bevölkerung, kirchliche Gruppen, Parteien wie die Grünen und die SPD – oder aber von den West-Diensten beeinflusste politische Stiftungen. Sie alle agierten in den unsichtbaren Freiräumen, die die präventive Intervention der Abwehr des Militär-Geheimdienstes gegen jede Gewaltlösung geschaffen hatte.

    Das Ziel aller neuen Bürgervereinigungen war ein Ende der unsäglichen Diktatur der noch allmächtigen Partei, vor allem die Beendigung der wirtschaftlichen Misere und eine basisdemokratische Erneuerung durch freie Wahlen. Revolutionär, aber in humanistischem Geist – denn alles sollte unbedingt friedlich geschehen.

    Die Westmedien, die fast überall in der DDR empfangen werden konnten, erfüllten in diesem Prozess des Wandels quasi Oppositionsaufgaben, und waren – bei aller Interessengesteuerter Propaganda – beschleunigender Katalysator, ohne den wir natürlich nicht so schnell vorangekommen wären.

    Nebenbei gesagt: Die Öffnung der Mauer und die Wiedervereinigung – mit dem Osten als Freistaat in einer Deutschen Union – hielten damals noch viele, mit denen unsere Einflussagenten offen sprachen, für keine reale Perspektive – eher für Zukunftsmusik. Aber allein die Diskussion darüber machte Hoffnung, die sie wiederum an andere weitergaben. Das war dann ein wichtiger Beitrag zur mentalen Wende in der Bevölkerung, vor allem bei den Fachleuten auf allen Ebenen, die wir auf diese Weise erreichten.

    Es gab aber auch diejenigen in den Eliten, die hoffnungsvoll-furchtsam sondierten, die später so bezeichnete Merkel-Revolution – man wartete schlau ab was kommt, und engagierte sich dann. Dieses Analytisch-Abwartende ist aber unter den Bedingungen jeder Diktatur und jeden Repressions-Regimes gerade bei Wissenschaftlern, die nur eines wollen, ungestört Forschen, der menschlich verständliche Normalfall, muss man zugeben.

    Einige der dann im Verlauf des Wende-Jahres auf dem Plan erschienenen Organisationen der Ost-SPD, des Neuen Forums und des Demokratischen Aufbruchs, wollten die DDR als Staat für erneute, pseudo-sozialistische Experimente erhalten, indem sie sich lautstark an die Spitze setzen. Da gab es doch diese berühmte Kundgebung auf dem Leipziger Karl-Marx-Platz, mit einem Redner, der rief: ›Liebe Freunde, lasst uns nun das Experiment des wahren menschlichen Sozialismus wagen!‹ Worauf ihm der Lacher des Abends aus der Menge entgegen tönte: ›Nehmt aber diesmal Ratten!‹

    Das machte den Frust einzelner deutlich – und den Flurschaden, den die seit vierzig Jahren durch die Besatzungsmacht und deren Einheitspartei verhinderten gesellschaftlichen Reformen nach sich zogen.«

    »Ja, so muss man das leider konstatieren«, warf Alexander Schmied sichtlich zerknirscht ein: »Durch die stalinistischen Verbrechen und das amoralische Gebaren der ideologisch verkalkten Funktionäre, wurde die humanistische Idee einer demokratischen gerechten Gesellschaft, mit ihr der Begriff des Sozialismus, bis auf die Knochen diskreditiert. Und das zum zweiten Mal in der Geschichte, denn schon der so genannte National-Sozialismus, der zum Faschismus entartet war, also niemals ein Sozialismus sein konnte, hatte ihn katastrophal beschädigt.

    Auch deshalb lässt der Begriff sich heute so leicht denunzieren und lösen von den humanistischen Inhalten – dabei ist die politische Idee des Sozialismus die menschlichste seit Jesus ‚Bergpredigt’!«

    An das einvernehmliche, bestätigende Schweigen der Runde knüpfte der Oberst an: »Zu den möglichen Perspektiven der weiteren Entwicklung, bei all den divergierenden Ansätzen in den Bürger-Gruppen damals, noch eins: Die wenigen, von der CIA angeworbenen Agenten der Vor-Wende, die auch in den Oppositionsgruppen arbeiteten, waren Doppelagenten der Stasi oder des KGB, – und, wie die Rosenholz-Dateien belegen, war der BRD-Apparat an den entscheidenden Stellen von östlichen Diensten unterwandert bis ins letzte Glied. KGB, Staatssicherheit und auch wir verspotteten die West-Dienste deshalb als unsere Filialen.

    Weshalb sage ich das? Eine Einbeziehung der von der BRD-Botschaft beschützten Dissidenten und Protagonisten der Vor-Wende in unsere Operation Lichtstrahl hätte zwangsläufig zur Enttarnung bei KGB und Stasi geführt, und damit unweigerlich zu einem vorgezogenen Putsch in der Sowjetunion und den anderen Ostblock-Staaten, – gegen Kommanda-Gorbatschow und alle Sympathisanten der Europäischen Perestroika.

    Diese führenden Dissidenten waren ja, auch in ihrer westmedialen Präsenz, von der Stasi nur als Überdruckventil geduldet, besonders, weil sie durch deren Observation regelmäßig weitere, aktive regimekritische Kräfte aufdecken konnte. Die konnte man dann nach Belieben verhaften, verurteilen und einsperren – um sie nach Westen zu verkaufen. So war natürlich, als schon geschilderter Nebeneffekt, auch dort für Devisen-Nachschub gesorgt.

    Diese Köderfunktion war immer der entscheidende Nutzen für die Stalinisten, deshalb wurde all unseren Einflussagenten von der Abwehr nahegelegt, in ihren Aktionen Abstand zu den Bürgerrechtlern zu halten.

    Verschärft galt das Abstandsgebot, als die Dinge in Fluss kamen: im Sommer und Herbst des Wende-Jahres. Natürlich waren unsere Leute nahe dran – aber eben nicht aktiv. Das Abstandsgebot betraf auch die kirchlichen Gruppen, die von der Staatssicherheit fast vollständig und flächendeckend unterwandert waren.

    Dieser Stasi-Einfluss erklärt auch in vielen Fällen die unbestrittene Bremserfunktion der Kirchen-Gruppen in der Vor-Wende, die sich – Ironie der Geschichte – zum Ärger der Machthaber dann nicht einfach umschalten ließen, als der Apparat in der heißen Phase auf Provokation und Konfrontation setzen wollte, um Gründe für eine Gewaltlösung zu bekommen.«

    »Bremserfunktion der Kirche?«, warf Oie zweifelnd ein, und Alexander lachte sogleich ironisch auf: »Ja Bremserfunktion, denn der Protestantismus in Deutschland speiste sich immer aus einem loyalen Bewährungspathos und dem Gehorsam gegenüber weltlicher Macht. Dass er seine Existenz den regierenden Fürsten verdankt, die sich gegen Rom stellten, hat sich quasi genetisch eingebrannt. Seitdem kriechen seine hochgestellten Protagonisten auf der Schleimspur der Macht und vor ihren landesherrlichen politischen Ersatz-Päpsten.

    Sie haben Zumutungen und Exzesse der jeweiligen Machthaber in der Geschichte allzu oft besänftigend begleitet. Kirche im Sozialismus war da nicht nur erklärtes Gesellschaftsmodell, sondern auch Valium für die Verhältnisse – gegen die man nicht aufbegehren wollte.«

    »Kleiner Einspruch!«, kam von Oie. »Kirchliche Friedensarbeit, wie das medial so wirksame Umschmieden eines Schwertes zur Pflugschar, Anfang der Achtzigerjahre in Wittenberg, das eine ganze Friedensbewegung neu prägte, war in dieser Europäischen Perestroika, so sehe ich es jetzt, von fundamentalem, Frieden stiftendem Nachhall. Das war aus heutiger Sicht wichtiger als etwa das verbissen-eitle Gedöns gewendeter Salon-Kommunisten, wie dem des Liedermachers Biermann in seinem persönlichen Krieg mit einer hochnäsigen, ignoranten Funktionärskaste, der er selbst entstammte.«

    »Das sehe ich differenzierter, Oie, wenn ich mich an seinen ersten Auftritt im West-Fernsehen erinnere«, blickte Alexander mit leuchtenden Augen in die Runde. »Das war schon sehr präzise, sehr poetisch und sehr ätzend, wie er über die Bonzen und ihre ideologischen Plattitüden herzog, die Differenz zwischen hehrem Anspruch und desillusionierter, ergrauter Wirklichkeit durchschlagend und versweise vermaß. Das war aber auch sein persönlicher Befreiungsschlag, denke ich, denn die Partei hatte ihn zuvor mit einem langjährigen Auftrittsverbot mundtot zu machen versucht.«

    »Sicher, Alexander, auch für mich hatte dieser Auftritt etwas indirekt Befreiendes – in seiner nie gehörten poetischen Frechheit, mit der er sich aber schon bewusst, so glaube ich, gen Westen absetzte. Wenngleich es damals einige als einen wohl kalkulierten persönlichen Opfergang für die Freiheit in der DDR hielten, war es für mich wie eine Kapitulation und sicher auch eine Entscheidung für die medialen, gut gefüllten Fleisch-Töpfe des Westens, die ihn aber folgerichtig zu einer Fußnote der Geschichte schrumpfen ließen.«

    »Auf die breite christliche Friedensbewegung als lose Organisation, setzten wir aber von Anfang an, Oie«, bestätigte der Oberst, »denn nur so ist ein gewaltfreier Wandel mental zu sichern. Dieser Friedensbewegung, und das war für die Entwicklung entscheidend, schlossen sich bis zur Wende immer mehr Bürger an, weil es die menschlichste Antwort auf die für alle fühlbare Kriegsgefahr, die permanente, nukleare Bedrohung an der Nahtstelle der Systeme in Deutschland war.«

    »Entscheidung. – Und was tatet ihr dann konkret, Oberst, in diesen entscheidenden Monaten, wenn alles noch so diffus und unklar war?«, forderte Nussbaum hinter der Kamera weitere Hintergründe.

    »Getreu unserer Strategie war uns aufgetragen, die friedliche Entwicklung in die Bürger-Gesellschaft konspirativ zu beschleunigen, und gleichzeitig eine militärische Konfrontation mit den sprungbereiten Sicherheitskräften unter allen Umständen zu verhindern. Das lag ja im Sommer in der Luft, – nur die Krankheit Honeckers und die Vorbereitungen zum vierzigsten Jahrestag der DDR ließen die Stalinisten noch zögern, eine härtere innenpolitische Gangart nach chinesischem Muster einzuschlagen.

    Dann, nach den Jubelfeiern, gab es den Parteiputsch der Fürsten gegen den greisen König – als letzten, hektischen Versuch der Genossen, ins Rad der Geschichte zu greifen.

    Das neu gewählte DDR-Politbüro musste die Lage entspannen und wollte, im Angesicht der Flüchtlingswellen, der Massen-Demonstrationen in vielen Städten und des bodenlosen Autoritätsverfalls der Führung, vor allem mit einer bescheidenen Reisefreiheit Druck herausnehmen und ihre Reformfähigkeit unter Beweis stellen.

    Gleichzeitig sollte mit dem Eintritt in eine neue Politik, über eine erhöhte Kreditbereitschaft der Bundesrepublik, die akute Devisen-Klemme überbrückt werden. Die Ober-Genossen um Parteichef Krenz waren sich sicher – so sollte es gehen.

    Was ihnen wahrscheinlich nicht bewusst war, ist, dass jeder Fortschritt, den eine Revolution tut, sie gesetzmäßig unausweichlicher macht und sie beschleunigt.

    Die erste Vorlage eines Reisegesetzes in der Öffentlichkeit wurde aufgrund ihres restriktiven, obrigkeitsstaatlichen Charakters von den Bürgern in der Luft zerrissen. Kein Rechtsanspruch auf Reisen, Gummi-Paragrafen als Ausschluss-Gründe und eine nicht geregelte Finanzierung waren die Haupt-Anstoßpunkte.

    Wir wussten, das führt zu nichts, sahen aber im Hintergrund – mit dieser vorsichtigen Entwicklung zu einer Öffnung – die Stalinisten sprungbereit und in der Vorbereitung von finalen, einschneidenden Gegenmaßnahmen nach chinesischem Muster.

    Hartgesottene, skrupellose Parteifunktionäre in ihrem Allmachtswahn glaubten noch im Jahr zuvor, mit den Kampfgruppen der Arbeiterklasse, die in jedem Großbetrieb leicht Bataillonsstärke erreichten und so landesweit schwer bewaffnet auf über zweihunderttausend Mann kamen, die innere Lage jederzeit im Griff zu haben. Etwa die Hälfte der Kämpfer und alle Kommandeure waren ja Parteigenossen.

    Als dann aber in diesen Einheiten Bürgerkriegs-Szenarien geübt werden mussten, ahnten viele Kämpfer, wohin der Hase läuft und traten einfach aus der Kampfgruppe aus – oftmals gleich verbunden mit einem Parteiaustritt. Die Mitgliedschaft in beiden Organisationen war ja freiwillig – wenn sie auch seit Gründung der DDR bei vielen Fachleuten zu einer zwingenden Bedingung für den beruflichen Aufstieg missbraucht worden war.

    Diese massierten Austritte aus den Kampfgruppen, die immer größere Kreise zogen und nicht aufzuhalten waren, versetzten die Parteibonzen auf allen Ebenen in Schrecken. Ersatz musste her, denn die Zuspitzung der Lage im Ostblock – besonders in Polen und Ungarn – sorgte bei unseren Gegnern für einen permanenten Alarmzustand.

    Der Militär-Geheimdienste, speziell unsere Abwehr, beobachteten regelmäßige, sich häufende Treffen zwischen Kommandeuren der Sowjet-Armee, der NVA, des KGB und der Stasi in allen Bezirksstädten der DDR. Spezialeinheiten gingen auffällig oft ins Manöver, und Garde-Divisionen der Freunde hatten schon im Sommer Alarmbereitschaft. Zur Eigensicherung, wie es abwiegelnd vom Oberkommando der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland hieß.

    Als doppelte Sicherung, und auch schon als Reaktion auf das absehbare Desaster bei den Kampfgruppen, hatte das Kommando der Nationalen Volksarmee Anfang des Wende-Jahres befohlen, in allen Divisionen Hundertschaften von Freiwilligen für Polizeiaufgaben auszubilden, denn unter NVA-Offizieren war die unausgesprochen mehrheitliche Stimmung: Deutsche Soldaten und reguläre Truppen schießen nicht auf die eigene Bevölkerung.

    Diese menschlich klare Haltung war ein Schwachpunkt in der Front der Stalinisten, den wir als Militäraufklärung schon in der Polen-Krise orteten.«

    »Ich erinnere mich«, warf Oie ein. »Ich musste wegen dieser Polen-Krise Anfang der Achtzigerjahre zur Reserve einrücken, – in eine Richtfunk-Kompanie bei Neubrandenburg, die fast ausschließlich aus Berliner Intellektuellen bestand. Da war über die kasernierte Ungewissheit – denn selbst private Radios wurden eingezogen – konspirativ Einigkeit, dass wir weder in Polen einmarschieren, noch je einen Schuss abgeben, denn anschließend würde Krieg herrschen, an dem wir uns, um unserer Familien willen, um keinen Preis beteiligen wollten. So nüchtern war die Einschätzung, die sicher auch bis zu den Kommandeuren und zum Militär-Geheimdienst durchdrang. Von dem wusste ich damals übrigens noch gar nicht, dass er überhaupt existiert.«

    Oberst Gros bestätigte: »Das wusste kaum einer, nur die Kommandeure der Einheiten hatten Kenntnis davon, dass da jemand an Bord war – nicht aber, in welchem konkreten Auftrag er agierte. Für alle anderen Offiziere war das nicht zu durchschauen, denn die Angehörigen des Militär-Geheimdienstes trugen die Uniformen der Truppenteile, in denen sie Dienst taten oder operativ eingesetzt wurden. Das war auch die perfekte Tarnung für die abschirmenden Operationen der Abwehr in der heißen Phase der Entwicklung.«

    »Heiße Phase? – Wann begann die und womit?«, setzte Oie nach.

    »Ende Oktober würde ich heute sagen. Wir nutzten das politische Vakuum im Zuge des Machtwechsels der Ober-Genossen in der regierenden Einheitspartei und lancierten über die offiziellen Kommunikationswege vertrauliche Informationen, die, wenn du sie nachlässig abschirmst, besonders gerne und schnell verbreitet werden – im Lande und besonders im Funktionärsapparat in Berlin. Brisante Informationen, um die Entwicklung im Sinne der Europäischen Perestroika zu beschleunigen. Darum ging es – das hatte Priorität.

    Die führenden Parteifunktionäre und Militärs, die sich immer unverhohlener als Feinde der Perestroika zu erkennen gaben, hörten es sicher mit ungläubigem Staunen. Das Gerücht hatte einen wahren Kern, wie wir sehr schnell merkten, kam von Igor Antonow und ging so: Patriotische Kräfte in der Partei und im Militär planen, den konterrevolutionären Entwicklungen im sozialistischen Lager Anfang November ein Ende zu setzen.

    Viele der Funktionäre des alten Apparates frohlockten: Endlich! Ein derartiges Ereignis wäre allen Hardlinern im Ostblock gerade recht gekommen. Auch viele im KGB, in der sowjetischen Generalität und Nomenklatura, die von Gorbatschow abgerückt waren, weil ihre Macht und ihre Privilegien zur Disposition standen, bereiteten sich intensiv auf derartige Szenarien vor. Sie lauerten darauf, seine Entspannungspolitik damit zu Fall zu bringen. Schon im Jahr der Wende, und nicht erst wie dann vor den Zweiplus-Vier Verträgen in Moskau versucht, und ein Jahr später mit dem Putsch gegen Gorbatschow wirklich geschehen.«

    Der Oberst hob den Kopf, schnupperte verkniffen, wie wenn er Unrat wittere, und trank einen Schluck Bier, was Alexander zu einem ironischen Einwurf nutzte: »Erinnert ihr euch an den Abtritt des Chef-Hetzers des DDR-Fernsehens, Karl-Eduard von Schnitzler, Ende Oktober? Die Parteioberen hatten sich entschlossen – als ein Signal der ideologischen Abrüstung – dieser in großen Teilen der Bevölkerung verhassten Galionsfigur des aggressiven Lügen-Apparates endlich das Fernseh-Podium zu entziehen.

    Bei seinem in allen Medien absichtsvoll-angekündigten, letzten Fernseh-Auftritt – für viele DDR-Bürger ein erneutes, hoffnungsvolles Zeichen von Wandel – schloss dieser hochintelligente Zyniker mit der Drohung: Es bedarf also der Kunst, das Richtige schnell und glaubhaft zu machen, als Waffe im Klassenkampf und zur Verteidigung meines sozialistischen Vaterlandes. – Auf Wiederschauen!«

    Alexanders Miene verfinsterte sich jetzt holzschnittartig: »Das war ernst gemeint, denn er sollte wenige Tage später – wenn alles gut geht – der Medien-Direktor einer Junta, eines Komitee zur Rettung des Friedens und des Sozialismus werden.

    Es stand in diesen Tagen also Spitz auf Knopf!«

    Oberst Gros sah die überraschten Gesichter Oies und Nussbaums, reckte sich wie zum Sprung und setzte nach: »Um das Politbüro der herrschenden Partei in dieser Situation weiter zu beschleunigen, mussten unsere Putsch-Gerüchte natürlich konkreter sein. Dazu kamen mit uns abgestimmte, streng geheime, offizielle Informationen des sowjetischen Militär-Geheimdienstes über unsere Leute in der Sowjetischen Botschaft ans Politbüro der SED.

    Der Inhalt war, so erinnere ich mich: Für die Nacht zum zehnten November ist mit einer massiven Grenzverletzung in Berlin und einem Angriff auf die Garnison der Sowjet-Armee in Karlshorst zu rechnen. In den Stadtgebieten an der Sonnenallee, Bernauer Straße und – wegen des weltweiten, medialen Echos – am Springer-Hochhaus auf der Westberliner Seite sind Provokationen zu erwarten. Bisher nicht identifizierte bewaffnete Kräfte werden diese Aktionen an der Grenze starten. Gleichzeitig soll ein Berliner Hauptquartier der Sowjet-Armee in Karlshorst von Fahrzeugen aus angegriffen werden, um dieser einen Vorwand zum Eingreifen zu liefern. Das soll zur Ausrufung des Ausnahmezustandes durch ein Komitee zur Rettung des Friedens und des Sozialismus führen. Grenzregiment und Stasi-Wachregiment in Berlin übernehmen das Kommando, verstärkt durch Spezial-Einheiten der DDR-Militärbezirke Nord und Süd in Uniformen der Bereitschafts-Polizei.

    Als Quelle gaben wir Informanten der Militär-Geheimdienste an. Das reichte den gläubigen, verunsicherten Ober-Genossen in Berlin, die ja ähnliches erwarteten – auch weil sie es vielleicht selbst gern getan hätten.

    Die schnelle, blutige militärische Lösung vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking, die Krenz noch im Sommer nach einem Staats-Besuch in China, als Beispiel gepriesen hatte, war aber in der Mitte Europas mittlerweile undenkbar – auch für die Mehrzahl der Feinde der Perestroika. Sie zögerten, so brutal durchzugreifen und arbeiteten deshalb an diesen indirekten, propagandistisch abgestützten, paramilitärischen Szenarien, um sich anschließend als die Retter des Friedens und des Sozialismus in Europa stilisieren zu können, ohne gleich einen Teil der Bevölkerung niederzuwalzen. Das muss man sich mal vorstellen, die Alt-Stalinisten als Friedensretter, auf einer Welle von Gewalt und Unterdrückung, – dem mussten wir begegnen.

    Unsere subtile Desinformationskampagne auf allen Ebenen zeigte sehr schnell Wirkung. Damit schufen wir das mentale Klima im verunsicherten Politbüro, sodass sie unserer von Igor Antonow insistierten Strategie der Maueröffnung folgten – um nicht am nächsten Tag von den Putschisten in die Wüste geschickt zu werden.

    Sie sorgte dafür, dass der Sprecher des Politbüros Schabowski auf der Pressekonferenz mit seinem nebligen Genuschel die Reißleine zog, indem er die uneingeschränkte Reisefreiheit verkündete und damit indirekt die Grenzen für offen erklärte – bevor die Mauerspringer ein Unheil anrichten.«

    »Schabowski. – Was wusste Schabowski von eurer Strategie, was denkst du?«

    »Nichts von den Hintergründen, denke ich, nur was er zu tun hatte – er wollte es vielleicht auch nicht wissen, denn zu viel Wissen kostet zuweilen, wenn’s schief geht, den Kopf.

    Es liegt doch in der Natur konspirativer Operationen über drei Bande, und das ist die Hohe Schule, dass da nur Impulse durchlaufen, die zum Ziel führen. Hintergründe und strategische Absichten werden so lange wie möglich verschleiert, denn das könnte Ziel und Zeitrahmen gefährden.

    Wir hatten nach dem Machtwechsel im Politbüro ja nur wenig Zeit, um uns auf dieses Finale einzustellen. Die nutzten wir, um unsere Leute im DDR-Apparat, vor allem im Innenministerium, im Militär und bei den Grenztruppen einzunorden

    Die Maueröffnung am Abend des neunten November war, so wird klar, für die SED ohne Alternative. Zugrunde lag die Angst des Politbüros vor dem für diese Nacht geplanten Putsch einer noch nicht identifizierten Gruppierung in den Sicherheitskräften des Partei- und Staatsapparates, der sie auf jeden Fall die Macht gekostet hätte. Die auslösenden Grenz-Provokationen, als absehbarer Anlass, sollten ins Leere laufen.

    Deshalb die eilig, innerhalb eines Tages, von Offizieren des Innen-Ministeriums zusammengezimmerte, vorläufige neue Reiseregelung, die einige Leute aus dem Politbüro auch schon panisch als ‚Papier zur Rettung in letzter Minute’ titulierten.

    Da hing dann, zur Tarnung, auch eine gewöhnliche, regierungsübliche Sperrfrist für die Medien dran. Aber unsere Agenten im Politbüro ließen den Anhang mit der Sperrfrist auf dem Weg zur Pressekonferenz verschwinden, denn alle Pläne der Putschisten mussten noch am Abend durchkreuzt werden.

    Deshalb die absichtsvolle Frage des italienischen ANSA-Korrespondenten Leonardo Ehrmann, der sich im brechend vollen Saal zu Füßen des Presse-Podiums platziert hatte, um nicht überhört zu werden. So gab er es zehn Jahre später zu, denn er wurde von einem Freund, dem Chef der offiziellen Nachrichtenagentur der DDR, ADN, aus dessen abhörsicherer Zentrale, dem so genannten U-Boot in Berlin, mit der Aufgabe angerufen: ›Du musst am Ende der Pressekonferenz nach der Reisefreiheit fragen – das ist ganz wichtig!‹

    Woraufhin Schabowski, mit dem verlesenen umständlichen Wortlaut der Erklärung zur Reisefreiheit über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD und zu West-Berlin eine neue, ebenfalls schon bestellte Frage provozierte. Denn dann kam von einem aufgeregten Reporter der Bild-Zeitung – ebenfalls zu Füßen des Podiums – eine Zwischenfrage.

    Das war die eigentliche Schlüsselfrage: die Frage nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Reiseregelung. Der Reporter war von einem seiner Chefs – der über vertrauliche Kanäle von uns informiert war – genau mit dieser Frage in die Presse-Konferenz geschickt worden.

    Schabowskis Antwort war aufgesetzt zögernd, weil er keinen Vermerk dazu im Reisegesetz fand, dann aber mit ›Sofort, unverzüglich!‹ sehr eindeutig, denn er und die Eingeweihten im Hintergrund wussten, es ging um jede Minute in dieser Nacht. Das sofortige Inkrafttreten der Reiseregelung sollte absolut nicht überhört werden.

    Natürlich wird man heute um keinen Preis von den damals Beteiligten hören, dass sie aus Angst vor dem politischen Tode, vor Machtverlust und dem Verlust von Privilegien den Selbstmord gewählt haben, wie es Spötter beschreiben würden – aber so war es.«

    »Bist du da nicht ungerecht mit deiner Beurteilung«, warf Oie ein. »Schließlich haben sich diese Genossen entschlossen, der Menschheit in dieser Nacht einen Dienst zu erweisen und nicht ihrerseits aus Machterhalt ein Blutbad anzurichten zu lassen – was noch durchaus im Rahmen ihrer Möglichkeiten lag. Dieser Dienst am Frieden in Deutschland war, so nebulös der Hintergrund bisher erscheinen mag, durch alle später handelnden, darauf aufbauenden Personen und Entscheidungen nicht mehr zu übertreffen. Besonders die für einen Funktionärsapparat ungewöhnliche Entschlossenheit des ›Sofort, unverzüglich!‹ als Entspannungssignal, auch wenn es aus Angst geschehen ist, hat doch die entscheidende Bresche geschlagen.«

    »Da sind wir uns einig«, lenkte der Oberst ein. »Was ich aber meine und zu bedenken gebe, ist, dass eine abschließende Bewertung jedes menschlichen Handelns nur fair sein kann, wenn die Motivation wirklich offen liegt. Der Machterhalt als Motivation ist aus dieser Sicht natürlich weniger bedeutend, als die Wahrung des Friedens und der Aufbruch in eine demokratische Bürger-Gesellschaft. Aber beides bedingte einander und hat letztendlich, in diesem Augenblick, die Entwicklung zur Deutschen Einheit weiter beschleunigt.

    Zudem haben die wirtschaftlichen und politischen Verfallserscheinungen den zeitlichen Handlungsrahmen zwingend vorgegeben, – die Obergenossen waren doch Getriebene.«

    »Ich verstehe Oies Einwurf«, schloss Alexander an. »Auch ich glaube, alle Menschen wären gerne gut, aber sie können es dann nicht, – denn die Umstände und das System lassen es, bei Strafe des Unterganges von Macht und Einfluss, nicht zu.«

    »Wohl wahr«, bestätigte der Oberst. »In jedem Falle halfen die Pressekonferenz und die Grenzöffnung der weiteren friedlichen Entwicklung auf die Sprünge – das war entscheidend. Ohne diese bestellten Fragen und diese wichtigen Antworten, besonders des Sofort, unverzüglich!, hätte sich der ordnungsliebende Deutsche am nächsten Morgen bei der zuständigen Melde-Stelle der Polizei nach einem Visum angestellt – gerade die gebildete, engagierte, schweigende Mehrheit, die niemals daran dachte die DDR zu verlassen, die bleiben wollte, um ihr Land neu und besser zu gestalten. – So wäre es nicht gegangen.«

    Beeindrucktes Nicken folgte im Rund, – aber Samuel wollte es genau wissen: »Lage. – Wie habt ihr das operativ verbunden, die diffusdirekte Botschaft von der Reisefreiheit mit der Lage an den Grenzübergängen?«

    »Da mussten wir nicht viel tun. Die Mechanismen der Propaganda hatten die Herrschenden in Fleisch und Blut. Alles wurde so anberaumt, dass diese guten Nachrichten alle Menschen in Deutschland erreichen konnten. Zuerst mit der direkt übertragenen Pressekonferenz zu politischen Entscheidungen des Tages, die in dieser Konsequenz ein völliges Novum in der Öffentlichkeit der DDR darstellte – und den ersten Abend-Nachrichten dazu im Zweiten Westfernsehen.

    Dann um halb acht über die Aktuelle Kamera der DDR, und dann noch mal um acht in der Tagesschau, die sicher auch die Hälfte der DDR-Bürger regelmäßig sah.

    Bereits mit der Pressekonferenz über die neue Reiseregelung war unseren Gegnern klar, dass wir ihre Strategie durchschaut hatten. Das war ungeheuer wichtig, denn sie mussten umdisponieren und ihre Provokateure zurückpfeifen – quasi den Rückzug organisieren, ohne aufzufliegen und unter Beschuss zu geraten. Es ging von da an nur noch um die Tarnung und Eigensicherung der Putschisten, haben wir später erfahren. Für einen Neustart sahen sie wohl schon zu diesem Zeitpunkt keine Chance mehr.«

    »Ich glaube«, hob Alexander die Stimme, »denen war klar, dass sie aufgeflogen sind, in der Schusslinie stehen und es nun jedem Einzelnen den Kopf kosten könnte. Vor allem rochen sie wohl, dass irgendwelche mächtigen Sowjets dahinterstehen. Wer sonst konnte im östlichen Imperium derart strategisch agieren und taktisch eingreifen?«

    »Das war auch so«, bestätigte der Oberst, »und das war einer der Gründe, weshalb das Hauptquartier der Stasi, dem alle Grenz-Kontrollpunkte unterstanden, so indifferent reagierte als die dort diensthabenden Offiziere in ihrer panischen Ratlosigkeit Rückversicherung suchten, wie sie sich denn – bei nun anrückenden Massen – verhalten sollten.

    Der dann befohlene und praktizierte erste Macht-Reflex, die lautesten Protestierer an den Grenzübergängen aus-, aber nicht mehr einreisen zu lassen, weil ihre Ausweise ungültig gestempelt wurden, war als so genannte Ventil-Lösung aber noch ein Teil des verhinderten Putschplanes – wissen wir heute.«

    »Ventil-Lösung?«

    »Ja, Oie, so war die Sprachregelung in den Sicherheitsdiensten. Nach dem Ungarischen Aufstand und dem Prager Frühling war man mit dieser Methode erfolgreich tausende Oppositionelle losgeworden. Das schlagende Argument damals war: Die müssen wir dann nicht einsperren, bewachen und versorgen – oder gar liquidieren.

    Wir hatten jedoch, bei aller medialen Absicherung durch die Pressekonferenz, von Anfang an Sorge, dass die DDR-Bürger zu abwartend reagieren würden und informierten jeden Einfluss-Agenten den wir erreichen konnten. Die wiederum alarmierten ihr Umfeld, Freunde und Bekannte, per Telefon oder Mund-zu-Mund-Propaganda – nur so konnte es funktionieren.

    Als unsere Leute dann an den Grenzübergängen gedruckte Zettel mit dem Wortlaut der Reisereglung verteilten, denn einen privaten Kopierer hatte niemand im Lande, und Stimmung machten, gab es kein Halten mehr. Auch unter den Grenzoffizieren hatten wir natürlich unsere Agenten, die wussten, worauf es in dieser Situation ankommt.

    Besonders wichtig für uns war da ein für die Grenzkontrollpunkte zuständiger Oberst in der Zentrale des MfS, der im Angesicht der brisanten Lage alle Hebel in Bewegung setzte, um eine befehlsgemäß drohende Eskalation schon im Ansatz auszubremsen – auch weil er wusste, wir und der Militär-Geheimdienst der Sowjets, die den Funkverkehr der Grenztruppen überwachten, greifen dann durch.«

    Wie in Erstarrung schaute der Oberst über den See in den dunklen Wald: »Ob wir aber im Ernstfall noch rechtzeitig – und ohne Blutvergießen – hätten reagieren können, treibt mich noch heute um.«

    Er fing und lockerte sich: »Aber es hat ja geklappt mithilfe anderer zwar ahnungsloser, aber verantwortungsbewusster Offiziere des Grenzkommandos, wurden, um ein Chaos zu verhindern, die Schranken der Übergänge geöffnet. Die Leute strömten in Massen und sangen ‚So ein Tag, so wunderschön wie heute‘ ... – und das wurde auch noch im Fernsehen gezeigt.«

    Die Männer schwiegen für Sekunden mit glänzenden Augen, sahen die Bilder der Maueröffnung und glaubten noch einmal den Klang dieser Freuden-Hymne, die eine Hymne zum großen Frieden in Europa werden sollte, zu hören.

    Der Oberst setzte nach: »Das war alles gut vorbereitet, würde ich heute sagen, ohne dass ich damals jedes Detail wissen konnte. Was wir erst hinterher erfuhren, und was Nikolai Ossipow schon angesprochen hat: Igor Antonows Leute bereiteten für diese Nacht auch das punktgenaue, weltweite Medienecho vor.

    Groß gedacht, wie alle Operationen der Europäischen Perestroika, ging das nur über die Amerikaner – die handstreichartige Eroberung der medialen Öffentlichkeit in den USA. Deren Präsident hatte ja, anlässlich eines Besuches in West-Berlin ein Jahr zuvor, am lautesten danach gerufen, die Mauer niederzureißen.«

    »Wie konnte das gehen, – kann ein Dienst so einen direkten, punktgenauen Einfluss nehmen?«, zweifelte Samuel.

    »Stimmt schon, direkt geht das selten, aber indirekt natürlich. Mit unserer Taktik über drei Bande und die sensationsgeile Medien-Szene – da kannst du so eine Lawine ins Rollen bringen.

    In unserem Fall mit einem der Meinungsführer in der medialen Öffentlichkeit des Westens. Einem entscheidenden Mann im amerikanischen Sender NBC in New York wurden schon Tage zuvor Informationen durchgesteckt, und der schickte dann eiligst einen Korrespondenten nach Deutschland. Am Brandenburger Tor – auf der West-Seite – errichteten sie eine Satelliten-Sendestation mit Reporter-Podium für eine exklusive Live-Übertragung in die Welt – vom Fall der Mauer. Natürlich bekam deren Chef-Korrespondent durch unsere Vermittlung auch einen exklusiven Interview-Termin mit Schabowski, gleich nach der Pressekonferenz, – der dann hervorragend mit dem Live-Bericht in der Nacht zusammenpasste. Sensationeller Tenor mit weltweitem Echo war: Die Mauer ist gefallen, in Berlin und Deutschland!

     

     

    Durch diese Inszenierung haben wir allen Missverständnissen, Fehldeutungen und bösartigen Interpretationen der Ereignisse sofort einen Riegel vorgeschoben – denn wenn die Bevölkerung der Führungsmacht des Westens den halben Tag mit Tränen vor dem Fernseher sitzt und das Ereignis bejubelt, gibt es kein Zurück mehr – auch nicht für irgendwelche taktierenden Politiker des Westens, denen die ganze Richtung überhaupt nicht passte.

    Das war aber noch nicht alles: Parallel hatten wir einem Team des West-Fernsehens für diesen Tag und die Nacht eine Drehgenehmigung für Ostberlin besorgt, mit der sie – oh Wunder – die begeisterten Reaktionen der Bevölkerung auf der Ostseite, auf den Straßen, in Kneipen und an einem Grenzübergang aufzeichnen konnten.

    Das hatten wir letztendlich alles im Plan, um dieses für die Europäische Perestroika so wichtige Ereignis absolut unumkehrbar zu machen.

    Damit war das gelaufen, was wir strategisch geplant hatten: ein gewaltloser Anstoß zu einem weltverändernden Umbruch, zu Frieden und Zusammenarbeit in Europa.

    Der Fall der Mauer in Berlin war der wichtigste Schritt, der Auftakt zum Finale in dieser Europäischen Perestroika zur Beendigung des Kalten Krieges, zum Fall des Eisernen-Vorhangs und – wirtschaftlich entscheidend – zur Beendigung der CoCom-Embargos, so können wir es heute stolz sagen. Jeder Verzögerung in der politischen Entwicklung hatten wir einen Riegel vorgeschoben, und jedem Putsch der Stalinisten war die Perspektive genommen!«

    Beeindruckt, aber immer noch etwas ungläubig, schauten die Männer auf den alten Oberst, ob dieser nüchternen Schilderung und Bestätigung unerhörter Zusammenhänge.

    »Imperium. – Wie verhielten sich die Kreml-Administration und besonders die Führung der Sowjet-Armee? Sie waren doch, unter dem Vier-Mächte-Status der Nachkriegsordnung und in den Augen der Welt, verantwortlich im Vorzimmer ihres Imperiums«, schnitt Samuel erneut eine brisante Frage an.

    »Wie intern verabredet. – Moskau, die Führung um Gorbatschow, war erst am nächsten Morgen erreichbar, gab sich ahnungslos und äußerte sich diplomatisch besorgt. Wirklich besorgt war der Kreml aber in dieser Nacht über die Rolle der Sowjet-Armee in Deutschland, vor allem seit Nikolai Ossipow mit der Nacht zum zehnten November den Putsch-Termin sicher prognostiziert hatte.

    Der Termin hing ja, wie ihr bei ihm und Konstantin Petrow eindrucksvoll hören konntet, mit der Polen-Visite des deutschen Kanzlers zusammen. Der Kanzler und sein Tross waren als dickes Faustpfand der Putschisten gegenüber dem Westen fest eingeplant. Wir konnten deshalb alle nicht sicher sein, ob nicht nach der Pressekonferenz mit Schabowski in Berlin ein ‚Plan-B’ bei unseren Gegnern anläuft – und an welchem anderen Eckpfeiler des Imperiums sie dann zuschlagen.

    Insofern saß man in dieser Nacht auch in Moskau wie auf Kohlen und die Kreml-Garde war in Alarmbereitschaft, erzählte mir Igor Antonow später, als alles zu unserer Zufriedenheit gelaufen war.

    Am Morgen nach der Maueröffnung hatten wir dann noch einige, spontan zum Marsch auf Berlin bereite Einheiten, die ja seit Anfang November unter Alarmstufe-1  in Bereitschaft lagen, durch Speznas-Einsatzkräfte des sowjetischen Militär-Geheimdienstes blockieren lassen – wie es euch Nikolai Ossipow schon geschildert hat.

    Da reichten gut sichtbare Panzer an strategischen Punkten der Fernverkehrsstraßen nach Berlin und nahe den Garnisonen. Das vertrieb bei unseren Gegnern jegliche Lust auf Abenteuer.

    Selbst als einige führende SED-Genossen am nächsten Morgen herumfunkten, welche Regimenter bereit seien, die heilige Grenzordnung in Berlin wieder herzustellen, signalisierten wir den Kommandeuren, dass schon der Versuch eines militärischen Eingreifens zum sofortigen Entzug ihres Kommandos durch den Militär-Geheimdienst führen wird.

    Militärisch ging nichts mehr für die Mächte der Vergangenheit. Besonders die Staatssicherheit begriff es sehr schnell, denn das war dann der Start zur Akten-Vernichtung und zum wirtschaftlichen Abtauchen in die absehbar neue Zeit im wiedervereinigten Deutschland.

    Die Maueröffnung war also unser geplanter deutscher, finaler Akt in der Europäischen Perestroika und Voraussetzung für den lang ersehnten großen Frieden, der durch die weltweite Euphorie der nächsten Tage und Wochen für alle Menschen auf unvergessliche Weise spürbar wurde.«

    Der Oberst, nach der vorgetragenen geschichtlichen Bilanz sichtlich erschöpft, trank in langen Zügen sein Bier bis zur Neige, was Alexander zu einem ironischen Einwurf nutzte: »Da muss ich mal was sagen zum strategischen Weitblick einiger Ober-Genossen, denn Schabowski zum Beispiel sah später in Gorbatschows Verhalten des Wegsehens bei diesen Entwicklungen etwas vom Laisser-faire, das seinen ganzen Politikstil geprägt habe. Dieses Gequatsche ist mit dem, was wir jetzt wissen, ein Witz der Geschichte, denn es war strategisch höchst planvoll.

    Auch Anwürfe aus dieser Richtung, dass der Kreml-Chef nicht den geringsten Überblick, geschweige denn die Kontrolle über das hatte, was er mit der Perestroika anschob, spricht von Ahnungslosigkeit.

    Wenn er dabei allerdings gleichzeitig betont, dass der unbedingte Drang zu  Veränderungen beim Sowjetischen Parteichef größer war, als bei allen anderen Reformern, unterstellt er den Geisteszustand eines unreifen Kindes.«

    Die Männer lächelten kopfschüttelnd, Alexander war jedoch der rückblickende politische Hintergrund wichtig: »Dass es Spitz auf Knopf stand, verstanden alle im inneren Machtzirkel der DDR seit den Massen-Demonstrationen in Leipzig und seit Parteichef Krenz mit leeren Händen aus Moskau zurückgekehrt war. Besonders nach der Groß-Kundgebung des vierten Novembers auf dem Alexanderplatz in Berlin.

    Hunderttausende Bürger auf dem Platz und eine Direktübertragung des Fernsehens – für die unsere Einfluss-Agenten unter den noch zögernden Mitarbeitern des Fernsehfunks gesorgt hatten – und das ganze Land warf in diesem Obrigkeitsstaat die Angst ab. Es genoss den unglaublich heiteren Aufbruch zur Basis-Demokratie wie ein Volksfest.

    Künstler und Intellektuelle formulierten in klaren Worten das, was alle bedrückte, was die Mehrheit hoffte – und wie sie sich die demokratische Bürger-Gesellschaft für die Zukunft vorstellten.

    Die wenigen Redner des alten Systems, die Kreide gefressen hatten, unter ihnen Ex-Stasi-General Wolff und der spätere Mauer-Öffner, Politbüro-Mitglied Schabowski, wurden ausgelacht – sie wurden vor aller Augen verbal mit Tomaten beworfen. Eine Zeiten-Wende war schon an diesem Tag fühlbar – für viele Menschen persönlich, glaube ich - und nachwirkend in der Wahrnehmung von Geschichte überhaupt. Auch der Kreml-Flug, mit dem alles begann, meine Freunde, wird künftig, im Angesicht der Aussagen, die ihr aufgezeichnet habt, als so eine Zeiten-Wende gelten, denke ich.«

    Der Oberst nickte zustimmend und hob zum Zeichen den Arm: »Diese öffentliche Zeitenwende, diese Kundgebung, haben wir schon Anfang Oktober geplant und über unsere Einfluss-Agenten in den kulturellen Eliten des Landes Mitte Oktober beantragen lassen, denn wir wollten uns strategisch nicht vom Zufall, den verunsicherten, von der Staatssicherheit unterwanderten Bürgerrechtlern, oder dem zögerlichen Reform-Tempo der Ober-Genossen abhängig machen.

    Damals mussten wir eine Möglichkeit schaffen, über die Massen medialen Druck für Veränderungen aufzubauen – das war der Plan und das Ziel, damit der anlaufende Wagen des friedlichen revolutionären Wandels nicht den Schwung und die Richtung verliert. Am Tag der Kundgebung agierten wir absichernd im Hintergrund, denn es wurden vom Apparat im großen Stil Sicherheitskräfte zusammengezogen, deren ausgewählt kampfbereite Kommandeure nur auf einen Anlass zum Eingreifen warteten.

    Igor Antonows Leute in Karlshorst überwachten den Funkverkehr zwischen diesen über und um die Hauptstadt herum verteilten bewaffneten Kräften unserer Gegner, um nach polnischem Vorbild, mit dem Militär-Geheimdienst, die Offiziere aus dem Verkehr zu ziehen, die sich zum Durchgreifen oder zu einer Provokation entschließen würden. Das war ja immer eine Restunsicherheit, der es im Ansatz zu begegnen galt.

    Heute weiß ich, ohne diese abschirmende Begleitung durch die Abwehr des Militär-Geheimdienstes hätte es überall an den Brennpunkten eine blutige Lösung geben können – wie auf dem Tiananmen-Platz in Peking.

    Ein Funke, ein Schuss hätte genügt. Das Potenzial bei unseren Gegnern war ja vorhanden – und fanatisierte Provokateure in Endkampfstimmung standen überall auf dem Sprung. Gewaltsame Einschüchterungsversuche – wie Fieberschübe – in vielen Provinz-Städten wie Dresden und Plauen im Oktober, hatten nervös-mentale Spuren auf beiden Seiten hinterlassen.

    Der gewaltfreie, angstfrei-heitere Verlauf der Groß-Demonstration auf dem Alexanderplatz in Berlin war dieser Abschirmung geschuldet und der fühlbaren, wachsenden Gewissheit der Menschen, dass die Mächte der Vergangenheit – für alle im Lande hörbar und sichtbar – ihr intellektuelles Pulver verschossen hatten.«

    »Wie hat der Partei- und Sicherheitsapparat auf dieses erste öffentliche Tribunal, das vor aller Augen der Macht die Hosen runter zog, reagiert – die mussten doch aufs Höchste alarmiert sein?«, versuchte Oie den Hintergrund auszuleuchten und sah, wie in den Augen des Oberst die Spannung dieses Tages noch einmal aufblitzte: »Unglaublich nervös, denn unseren Gegnern wurde mit der Kundgebung auf dem Alexanderplatz klar, wie klein ihr Zeitfenster geworden war, um diese Entwicklung noch aufzuhalten.

    Die Stalinisten fühlten sich in ihrem Putschplan bestätigt und aufs Äußerste motiviert. Hektik machte sich breit und die Entscheidung fiel endgültig. – Tage der Abrechnung sollten es werden. In fünf Tagen wollten die Genossen losschlagen, – eben in dieser Nacht zum zehnten November.

    Durch unsere Agenten nahe bei den Einheiten, bei denen Putsch- Vorbereitungen sichtbar waren, und die Zusammenhänge mit der hohen Diplomatie durch die Polenreise des Kanzlers wurde das noch mal bestätigt – auch wenn es konspirativ perfekt abgeschirmt zu sein schien.

    Auf der Kommando-Ebene trafen wir deshalb alle Vorkehrungen für diesen Tag. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb die Bild-Zeitung titeln konnte: In fünf Tagen fällt die Mauer!

    Alle taten das als typische Bild-Meldung ab und glaubten, die spinnen mal wieder. Aber unter unseren nützlichen Multiplikatoren agierte ein Chef dieser Zeitung, der leider immer ein bisschen an verbaler Inkontinenz litt – ihr erinnert euch? Der, der seinen Reporter für Schabowskis Presse-Konferenz anspitzte, er solle nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Reiseregelung fragen – das sei das Wichtigste. Der konnte es sich dann nicht verkneifen, mit dem Wissen und dieser Schlagzeile Auflage für die Bild-Zeitung zu schinden.«

    Eine Weile war wieder beeindrucktes Schweigen und ungläubiges Lächeln.

    Der Oberst reckte sich – die trockene Luft witternd. Schleppend und wie erschöpft ob der komprimierten Erinnerung an diesen Tanz auf dem Vulkan, ging er zu seinem Bunker im Hang – kühles Bier holen.

    Als er es verteilt hatte und sich setzte, richtete Nussbaum die Kamera auf Alexander Schmied. Der begriff die erneute Chance und hatte einen Anflug von nachhallendem Triumph in der Stimme, als er ansetzte: »Der rasante Autoritätsverlust der angemaßten führenden Rolle der Partei – besonders seit der Großkundgebung auf dem Alexanderplatz – war den Genossen des Politbüros bei ihren folgenden Auftritten an der Basis – gerade bei ihrer eingebildeten Hausmacht, den Werktätigen – mit jedem Tag mehr bewusst.

    Dazu kamen im Hintergrund die drohend-terminierte Zahlungsunfähigkeit in der West-Verschuldung und die um sich greifende wirtschaftliche Agonie. Die Flüchtlingsströme über Ungarn und die Tschechoslowakei waren dabei nur die am deutlichsten sichtbaren Spitzen des Eisberges von ungelösten Problemen und dem Verdruss der Massen. Das führte zu immer unverhohleneren Drohungen der Alt-Stalinisten hinter den Kulissen – wie von Schnitzler, mit dem Sicherheitsapparat im Rücken, durch die Blume gefordert.

    Sie trieben das regierende Politbüro nach vorn.

    Putschgerüchte von allen Seiten kamen dazu, die auch ich an der GeWi-Akademie gestreut hatte und die man, wenn man wollte, auch aus anderen Instituten schon am nächsten Tag auf allen Fluren hören konnte. Sehr diffus, aber in der Stimmung glaubwürdig-befürchtet.

    Ich erinnere mich auch an die Kassandra-Rufe des Rechtsanwaltes Vogel bei uns in der Akademie, der einen immensen politischen Schaden und einen neuen zwanzigjährigen Kalten Krieg befürchtete, sollten diese Putsch-Gerüchte wahr werden. So berichtete es übrigens nach der Wende auch der Generaldirektor eines Historischen Museums von einer Tagung am Nachmittag des neunten November in West-Berlin.

    Da traf er eben diesen im Osten bis ins Zentralkomitee der Partei vernetzten Rechtsanwalt, einen Unterhändler zwischen beiden deutschen Staaten, in vielen hochbrisanten, rechtlich pikanten Angelegenheiten – und ich stand daneben. Auch da brachte Vogel seine Furcht zum Ausdruck, dass nun ein Putsch unmittelbar bevorstehe – er erwarte ihn mit hoher Sicherheit innerhalb der nächsten Stunden.

    Der West-Direktor fuhr daraufhin alarmiert nach Hause und wollte vom drohenden Schrecken berichten – die Familie saß jedoch schon begeistert vor dem Fernseher, in dem die Maueröffnung auf allen Kanälen lief, und sagte wohl nur so was wie: Nun setz dich mal hin und schau – welch ein Glück für uns Berliner!

    Das ist nur eine kleine Geschichte am Rande und alle, die Verantwortung trugen, die sich erinnern, wissen, welch ein nervöser Bienenstock die ganze DDR und besonders Berlin in diesen Stunden war.«

    »Ja, das waren die letzten Aufgeregtheiten in der alten Zeit«, bestätigte der Oberst, »die fielen schlagartig in sich zusammen mit dem Augenblick, da wir die Schleusen der Mauer für den großen Frieden öffnen ließen!«

    »Wie siehst du das heute, im Kontext der Geschichte, Alexander, was folgte daraus und wo stehen wir jetzt – lange nach diesen, die Welt bewegenden Ereignissen?«, forderte Oie nun ein Resümee.

    »Wenn du mich das fragst, kommt mir ein Refrain der Silly-LP vom Februar des Wende-Jahres in den Sinn: ›Alles wird besser, alles wird besser, aber nichts wird gut.‹ Das gilt auch heute noch – oder schon wieder – für fast alle politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Belange.

    Der in diesem neo-liberalen System heiliggesprochene Wettbewerb hat mittlerweile so viele irrationale Auswüchse, die nur den Spekulanten dienen, wie der einstmals von oben durchgedrückte Heilige Plan, in der angeblich alternativlosen Planwirtschaft des Ostens.

    Heute ist es Wettbewerb um des Wettbewerbs willen, egal was es dann kostet an Natur-Ressourcen, Menschlichkeit und Solidarität.

    Dabei kreisen die Eliten – wie damals in der DDR – wieder um sich selbst und ihre Macht erhaltenden Besitzstände. Undankbarkeit und Ignoranz der Ursachen von Fehlentwicklungen ist in der Oberflächlichkeit der Politik wieder die Regel – nicht die Ausnahme.

    Es zählt, damals wie heute, nur der für die eigenen Macht-Ambitionen verwertbare Fakt. Verschärft wird das in diesem System durch permanenten Wahlkampf in einem kulminierenden Medien-Zirkus, der die Politiker vor sich hertreibt.«

    »Und wie ist heute dein Blick auf die Aufarbeitung der damaligen Ereignisse, was fällt besonders auf, und was bleibt in der Geschichte?«, setzte Oie nach.

    »Eine große Geschichts-Klitterung ist zu bemerken, die umso größer wird, umso mehr die Ereignisse im Dunkel der Zeit verschwinden.

    Damals – nach der Wende – war es doch so: So genannte Bürgerrechtler – in der Mehrzahl mit der Gnade der späten Beteiligung, als sie nichts mehr riskieren mussten – spreizten sich als Wende-Protagonisten. Die, die zuletzt auf den Zug aufsprangen, präsentieren sich nun, mit verblassenden Erinnerungen, immer öfter als Lokführer, indem sie neue Beweise zu Marginalien ans Licht zerren, wer das System in der DDR gestützt hat. Sie präsentieren skandalisierend immer gleiche Geschichten von Unterwerfung, Feigheit und Verrat. Sie stöbern in den Exkrementen eines torpedierten gesellschaftlichen Experimentes, und den Hinterlassenschaften einer untergegangenen inneren und äußeren Besatzung.

    Das, meine Freunde, ist aber niemals mehr als ein denunziatorischer Blickwinkel auf die gemeinsame deutsche Geschichte. Denunziationen sind in der Sensations-Geilheit der westlichen Medienkultur – wo nur eine schlechte Nachricht eine gute Nachricht zum Verkaufen ist – das ideale Instrument. Damit spalteten sie dieses Volk, statt es zu versöhnen – und darauf kann man in Deutschland wieder Karrieren begründen.

    Wie dieser Gaukler, Pfarrer Gnadenlos und Pharisäer, der es sich und seiner Familie unter dem warmen Schirm von Kirche im Sozialismus privilegiert gut gehen ließ und gewendet, im Amt, alsbald seine Landsleute im Stich ließ – den Osten für Glanz und Salär höchster Ämter pauschal verriet, so sehe ich es und so sieht es sicher die Mehrheit. Unter einer Wolke von eitlem, leerem Freiheitsgedöns hat er unerhört viel menschliches Porzellan zerschlagen – bei Bürgern, die sich nichts hatten zu Schulden kommen lassen, bei fleißigen, bescheidenen Ossis, gutgläubig, diszipliniert, winterhart und enttäuschungsfest, denen auch er sein Auskommen und das Überleben im Kalten Krieg verdankte.

    Die wurden in seinem Namen pauschal verdächtigt, entehrt und beim kleinsten Widerspruch zurechtgewiesen wie ungezogene Kinder.«

    »Die damit verbundenen Sprach-Volten, Alexander, hätten meinen Bruder – wenn er noch leben würde – zur Verzweiflung, wenn nicht zur Explosion gebracht, denn von einer Deutschen Sündengemeinschaft redet dieser Pharisäer neuerdings. Der Deutschen Sündengemeinschaft, der nun, so sein präsidialer Wunsch, auch alle Zuwanderer beitreten sollten.«

    »Hintergrund. – Was ist da der Hintergrund, was denkt ihr? Sündengemeinschaft klingt ja für mich so, als solle man sich zum Sündigen verabreden«, lachte Nussbaum.

    »Die Ambivalenz dieser Wort-Kapriole merken die Großkopferten gar nicht mehr, denn ein permanenter Beiß-Reflex gegen alles, was da im Osten Deutschlands war, hat ihre Gehirne zersetzt«, war sich Alexander sicher: »Wahrscheinlich kommt diese Wortschöpfung aus dem Betroffenheits-Gewerbe, weil nun letzte, wirklich schuldige Faschisten in Deutschland ausgestorben sind und von den weltweit agierenden, aktuellen Verbrechern neue deutsche Schuldsklaven gebraucht werden, für ihr Geschichtsmantra, – das aber vor allem von den eigenen Untaten ablenken soll.«

    »Aktuelle politische Verbrechen gibt es doch überall – wen meinst du konkret?«

    »Die, Samuel, die seit dem Ende des Weltkrieges, aus Machthunger und im Namen der Freiheit ihres Geldes, Millionen von Menschen auf dem Gewissen haben: Die USA, ihre willigen Verbündeten und die das Ganze steuern – die in der Finanz-Mafia. Ich meine die Verbrechen in Vietnam, Chile, Afghanistan und dem Nahen Osten – um nur die größten, die Militärischen, zu benennen.

    Diese Mächte brauchen den täglichen Schuldkult als Popanz, um die friedliche Mehrheit in der Mitte Europas weiter für ihre finsteren Zwecke benutzen, sie bevormunden und erpressen zu können. Dem dient die Gauklerbrut mit Inbrunst und erstickt mit Medienmacht alle Zweifel der Gutwilligen und Friedfertigen – die mit Recht auch danach fragen, was dem vorausging.«

    »Fragen. – Danach haben wir auf unserer Reise durch den Osten immer gefragt, aber was meinst du in Bezug auf diese dubiose proklamierte deutsche Sündengemeinschaft?«

    »Das ist Teil der psychopathologischen Unterdrückungsstrategie, Samuel, denn von diesen Leuten wirst du niemals Fragen danach hören, was dieses produktive Land in der Mitte Europas der Welt gegeben hat – und vor allem nicht, was ihm angetan wurde.«

    »Was meinst du konkret, Alexander?«

    »Dieses Land in der Mitte Europas war doch schicksalhaft und lange Zeit Ziel von Raubzügen seiner Nachbarn, wurde im Dreißigjährigen Krieg total verwüstet, vom napoleonischen Frankreich missbraucht und ausgeraubt. Dann von den überdehnten kolonialen Imperien – die nur ein Ziel hatten, ihre mangelnde Entwicklung durch technologische Raubzüge zu kompensieren und Deutschland zu ihrem nützlichen Vasallen zu zwingen – in verheerende Kriege verwickelt. Das war gemeinsames Ziel, denn schon zur Kaiserzeit war Deutschland das Mekka der Wissenschaften, was sich auch an der Liste der Nobelpreisträger ablesen lässt.

    Dieses technische Zentrum Europas hatte mehr Weltmarktführer in Technologien und Produkten als der Rest der Welt zusammen. Das ist bis heute so, auch wenn es die konkurrierenden Großmächte durch ein geistiges Versailles und die Enteignung aller Patente an der Entwicklung und am neuen friedlichen Aufbau nach dem Ersten Weltkrieg zu hindern suchten. Mit abermals verheerenden Folgen, wissen wir.

    Und nun stehen diese alten überdehnten größenwahnsinnigen Imperien wieder da, und sehen wie produktiv und zukunftweisend Konzentration, Bescheidenheit und Friedfertigkeit sein können, dass dieses neue Deutschland dafür bewundert wird in der Welt, und ein Vorbild für viele Nationen ist.

    Das macht besonders die untergehenden Mächte und ihre gekauften Paladine wütend – deshalb das Gerede und die Forderung nach der Sündengemeinschaft.«

    »Rache gesteuerte Geschichts-Verwurstung mutiert schon wieder zur Ideologie in Deutschland, Alexander«, konnte sich Oie ein sarkastisches Nachsetzen nicht verkneifen. »Das stößt besonders den zu politischem Denken erzogenen Ossis sauer auf, denn wir hatten uns ja auf dem Alexanderplatz geschworen:

    Nie mehr Dominanz von Ideologie über Geist und Menschlichkeit!

    Nie mehr Fahnenappelle!

    Nie mehr blindes Einverständnis!

    Nie mehr Klassenstandpunkt und Führende Rolle!

    Nie mehr Beweihräucherung von Opfern, um die Unterdrückung

    Andersdenkender zu rechtfertigen und die Meinungsfreiheit zu untergraben!«

    »Recht hast du«, bestätigte Alexander und setzte nach. »Es ging den Herrschaftseliten des Geldes und der Medien nach der Wende vor allem um eines: Sie wollten und mussten von Anfang an mit diesem denunzierenden Rundumschlag die idealistisch geprägten fachlichen Eliten des Ostens als Widerspruchs-Potenzial kaltstellen, um jede Frage danach, wie wir als Volk in der Mitte Europas zukünftig leben wollen, in welchen gesellschaftlichen Verhältnissen, mit welchen Prioritäten und vor allem mit welcher erneuerten Verfassung – die den Deutschen ja versprochen war - im Keim zu ersticken.

    Ein Volk, bevormundet und geteilt von den Besatzungsmächten und den Pharisäern der Herrschaftskasten – in Konfrontation gehalten, bis an den Rand eines nächsten, vernichtenden Welt-Krieges.

    Und noch eins zu Protokoll für die Geschichte«, schwang sich Zorn in Alexanders Stimme auf, »in den Medien wurde nach der Wende von der notwendigen Aufarbeitung der zweiten Deutschen Diktatur geredet. Das ist – so denke ich – eine absichtsvolle und unverschämte Gleichsetzung, denn diese Diktatur wurzelte eben im aufoktroyierten Besatzungs-Regime aller Siegermächte im Nachkriegs-Deutschland.

    Die erste Deutsche Diktatur dagegen hatte ihre Ursachen in den existenziellen Bedrückungen - infolge des Ersten Weltkrieges, des Versailler Diktates und der Weltwirtschaftskrise - die den Nationalismus der Kriegszeit am Leben erhielten. Das verschaffte den Faschisten eine parlamentarische Stimme, mit der sie – nach dem Vorbild der italienischen Faschisten – die Macht in großer Brutalität an sich reißen konnten.

    In allen entwickelten Industrieländern Europas gab es doch in den Dreißigerjahren Zweifel an den demokratischen Institutionen. Es gab starke nationalistisch-faschistische Bewegungen in fast allen europäischen Ländern. Sie wurden von Mächtigen gerufen und gefördert, die, im Angesicht der russischen Revolution, mit ihrem Latein am Ende waren. Auch gab es ein aggressives Militärregime in Polen sowie faschistische Parteien in England und den USA. Ursache waren auch dort die verheerenden Bedrückungen der Völker, durch eben diese lang anhaltende Weltwirtschaftskrise. Die Menschen haben für sich im Nationalismus – in der aus Depression und Niedergang erzwungenen Abgrenzung – einen Ausweg aus unerträglicher Not gesehen.

    Die Diktatur in der DDR dagegen war nicht einmal im Ansatz frei gewählt, nannte sich ja auch oberzynisch Sozialistische Demokratie und gleichzeitig Diktatur des Proletariates. Sie war doch eine übergangslose Folge des Krieges und einer gnadenlosen politischen Umsetzung des Besatzungsstatutes der vier Siegermächte durch eine eingesetzte, herrschende Partei, mit ihrer pseudo-kommunistischen Ideologie.

    Fördernde Bedingung war der Kalte Krieg, der jede freiheitlich demokratische Bewegung im so genannten Sozialistischen Lager zu einer Frage von Krieg und Frieden erklärte – und den Repressions-Apparat durch Funktionäre, Blockwarte und Wachmannschaften ständig weiterentwickelte. Diese Partei erklärte alle Probleme, die sie im Kalten Krieg nicht lösen konnte oder wollte, zur Machtfrage – wenn es sein musste, mit brutalst möglichem Ausgang.

    Das war die grundlegende politische Existenzbedingung der Bürger in der DDR, auch wenn die überwiegende Mehrheit – die Verwurzelten – es ganz pragmatisch als ihr Land ansahen, dazu standen und es mit all ihren Träumen und Kräften als friedliche und gerechtere gesellschaftliche Alternative aufbauen wollten.«

    »Alt-Linke. – Das haben wir schon von Tuomas Poursiainen gehört, Alexander«, warf Nussbaum ein, »aus seiner Studentenzeit in West-Berlin, wie viele Alt-Linke die DDR trotzdem und bis zuletzt als das wahre Deutschland priesen.«

    »Ja, aber dieses undemokratische Fundament, und die von Anfang an vom Westen wirtschaftlich boykottierte, wacklige Statik des Systems, die immer mehr Sicherheitsstützen erforderte, damit sie nicht kollabiert, war doch die Hauptursache für den Niedergang des nach den Kriegen so ersehnten neuen, gerechteren Gesellschaftssystems in der Mitte Europas.

    Besonders den undemokratischen inneren Widerspruch haben die Alt-Linken dann einfach ausgeblendet, denn die Existenzbedingung von Ideologien aller Couleur ist der Wahn, über dem Leben der Bürger zu stehen.

    Wenn aber alles von den Herrschenden für unverzichtbar und systemrelevant erklärt wird, gibt es keine Bewegung mehr. Jede Entwicklung und jeder geistige Fortschritt erstirbt daran – dafür aber kannst du unter den Bedingungen der Diktatur nicht die Bürger in Haftung nehmen, schon gar nicht pauschal.

    Den Menschen im Osten, aber auch denen im Westen Deutschlands, ist kein Vorwurf zu machen – unter keinen Umständen. Sie sind und waren im Nachkriegs-Deutschland politisch niemals schuldig, weil sie unter dem Besatzungsrecht nicht, oder nur sehr begrenzt politisch selbstbestimmt handeln konnten.«

    »Frech ist das, frech«, zürnte Nussbaum. »Da sagt doch jüngst so ein Ober-Dödel vom selbst ernannten beamteten Widerstandsadel öffentlich: ›Einige haben für die Anpassung vieler einen Preis gezahlt.‹

    Das ist eigentlich eine Binsenweisheit, die auch das Verhältnis vom Gesetzesbrecher zum gesetzestreuen Bürger beschreiben würde. Aber es ist anders gemeint, denn es ist eine Selbstbeweihräucherung der Profiteure der Wende – und gleichzeitig eine pauschale Denunziation der Bürger des Ostens. Da werden historische Zusammenhänge völlig verdreht, denn die Anpassung vieler, in Ost und West, unter diesen Besatzungsverhältnissen im Kalten Krieg, hat ja erst den äußerst labilen Frieden in Europa gesichert.

    Bornierte und gierige Kriegstreiber auf beiden Seiten, die alle Mittel besaßen, sofort loszuschlagen und die nur auf eine Gelegenheit, eine politische Schwäche oder einen Aufstand auf der Gegenseite warteten, lagen auf der Lauer und waren eben nur durch diese stoische, duldsame Friedfertigkeit der Massen zu bremsen.«

    »Das ist alles sehr wahr, Samuel. Wenn man das Leben der Menschen betrachtet, die in ihre Zeit gestellt waren, wird klar, dass sie nicht in historischen Schubladen existierten. Sie lebten unter diesen Bedingungen in einem mehr oder weniger wilden Wasser der Anfechtungen, Ereignisse und Entwicklungen, die im ganzen Nachkriegsdeutschland nur äußerst begrenzt von ihnen selbst zu beeinflussen waren.

    Dem konnte man nur begegnen, wenn man sich als Mensch menschlich verhielt. Alles Gute in diesem nun friedfertigen Deutschland erwuchs daraus – und war das wichtigste Resultat der Nachkriegsentwicklung.

    Die Bürger des Ostens haben durch diese unendliche Duldsamkeit und ihre Leidensfähigkeit im gesellschaftlichen Experiment, unter den stringenten Besatzungsverhältnissen des Kalten Krieges, wirklich den heißen Krieg in der Mitte Europas verhindert. Und sie haben, durch ihre friedliche Revolution, den Deutschen das größte Geschenk ihrer Geschichte gemacht – die Einheit in Freiheit.

    Außerdem haben sie – so nebenbei – in diesem vierzigjährigen Experiment DDR persönlich dafür hergehalten, zu wissen, was am Sozialismus so nicht geht«, lächelte Alexander ironisch.

    »Punkt, Alexander. – Ja, ich glaube, das bringt es im Rückblick auf den Punkt. Wie aber siehst du es, Oberst?«, forderte Samuel.

    »Mich hat nach der Wende geärgert, wie schnell alle Leistungsträger den Schwanz eingekniffen und sich nur noch zu ihrer Vergangenheit bekannt haben, wenn man sie direkt darauf angesprochen hat. Das ist aber im Rückblick nur menschlich und kein Wunder, wenn ein paar Dissidenten, die aus dem Westen zurückkamen, und jede Menge schnell gewendeter Möchtegern-Widerständler es schafften, im Zusammenspiel mit den neuen Herren der Medien, alles Gewesene pauschal zu stigmatisieren.

    Das ist so, als ob man Millionen Insassen eines gut organisierten, von den Besatzungsmächten eingerichteten Arbeits-Lagers – hinter der Frontlinie – nachträglich dafür bestraft, dass sie sich an die Lagerordnung gehalten haben. Bestraft dafür, dass sie sich unter diesen Bedingungen redlich bemühten, anständige Menschen zu bleiben, für die Kriegsfolge-Schäden aufzukommen, den Wiederaufbau zu schaffen und den Frieden um jeden Preis zu erhalten. Als ob diese Lager-Kinder das Lager und die herrschende Ordnung erfunden hätten, nicht die Besatzungsmächte im feindlich-stillschweigenden Einvernehmen des Kalten Krieges, wie Konstantin Petrow in Serpuchow es euch so eindrücklich schilderte.«

    Oberst Gros, zufrieden alles gesagt zu haben und fühlbar beeindruckt vom Komprimat der erinnerten Ereignisse, wirkte schon sichtlich erschöpft, als Nussbaum noch einmal nachsetzte.

    »Putin. – Auch an dich noch die Frage, welche Rolle spielte Putin?«

    Der Oberst merkte auf und lächelte in sich hinein: »Heute rätseln viele, inwieweit Putin damals an den Operationen beteiligt war. Ich sage nur: Er gehörte als Offizier zur Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und hat mit Mut und Umsicht, bei hohem persönlichem Einsatz, in einem entscheidenden Augenblick gegengesteuert, um die friedliche Entwicklung bis zur Deutschen Einheit zu sichern.

    Diesen Mut bewies er, als er sich, beim beabsichtigten Sturm auf die graue Villa in Dresden, dem Sitz der Sowjetischen Geheimdienste, den Demonstranten entgegen- stellte und sie mit der Waffe im Anschlag stoppte, sodass sie abzogen.

    Er stand damals, nach der Wende, bei nun offener Mauer, vor einer von CIA-Agenten aufgehetzten Meute. Ein Schwarm von Provokateuren war am Morgen aus West-Berlin angereist und wollte, im Schutz ahnungsloser Dresdner Bürger, das Stabsgebäude stürmen lassen, um sich in den Besitz von geheimen Unterlagen zu bringen, wie es ja in Berlin, im Stasi-Hauptquartier in der Normannenstraße, so einfach geklappt hatte, obwohl das in Berlin nur ein Ablenkungsmanöver war.

    Das hätte in Dresden auf jeden Fall zum Eingreifen der Sowjet-Armee geführt, deren Panzer mit laufenden Motoren in den nahen Kasernen bereitstanden und deren Führung in Moskau und im Hauptquartier Wünsdorf mit virulenten Putsch-Absichten auf so einen Anlass lauerte. Zur Erinnerung: Es galt ja noch das Besatzungs-Statut für ganz Deutschland.«

    »Wie ordnest du das operativ ein, Herbert? Das klingt wie eine spontane Aktion, denn die Amis waren doch vom Verlauf und vom Tempo der Wende überrascht, haben wir schon bei Konstantin Petrow gehört.«

    »Richtig, Oie, – ich weiß heute, dass es eine spezielle Gruppierung in den amerikanischen Diensten war, die das forcierte, weil ihnen die rasante Entwicklung der Perestroika und das drohende Ende des Kalten Krieges – vor allem die damit verbundene Aussicht auf eine intensive Wirtschaftskooperation zwischen Deutschland, Europa und der Sowjetunion, wie sie mit dem Duo Kohl - Gorbatschow in der Luft lag – überhaupt nicht in den Kram passte. Für den Hegemonialanspruch des Militärisch-industriellen Komplexes der USA war das eine Horrorvision.

    Die Aktion war quasi die improvisierte erste Stufe der Gewalt, um dieses Projekt einer friedlichen Kooperation auf dem Eurasischen Kontinent zu verhindern – und sie hofften, die Perestroika würde mit einem Knall in Dresden nun endlich das Gesicht verlieren.

    Die zweite Stufe der Intervention durch Gewalt, als das nicht funktionierte, war der in eurem Film bei Konstantin Petrow angesprochene Abschuss des wichtigsten Bankiers der Bundesrepublik, Alfred Herrhausen, drei Wochen später, der einer der visionärsten Verfechter einer neuen kooperativen Wirtschafts- und Finanzordnung war. Dies sollte die eng verzahnte Wirtschaft des Ostblocks, in der die DDR eine Schlüsselrolle innehatte, nach teilweisem Schuldenerlass behutsam sanieren, um einen Zusammenbruch zu vermeiden.

    Diese Bilderberger und die Finanzmarkt-Mafia um Goldmann-Sachs hatten Herrhausen zum Erz-Feind erklärt, denn seine Konzepte wurden zu einer Gefahr für ihre Allmacht. Man stelle sich vor, der führende Bankier der Bundesrepublik fordert – nach Gorbatschows Vorbild – Glasnost und Perestroika für das Kapitalistische System!«

    »RAF. – Das ist mir seit dem Abend bei Konstantin Petrow nicht aus dem Kopf gegangen, denn auch der Anschlag auf Alfred Herrhausen war doch nach offizieller Lesart ein Werk der RAF«, zweifelte Nussbaum.

    »,Ja liest man, – aber Handschrift und Hintergründe, die wir damals noch sezieren konnten, bevor wir unsere Agenten abschalteten und uns im Sommer auflösen mussten, sprechen eindeutig eine andere Sprache.

    Die RAF stellte nur die nützlichen, fanatisierten Idioten, und bei verdeckten Operationen, in der Strategie des Dreiband-Billard, ist das nicht zurück zu verfolgen.

    Wir hatten ja noch unsere Leute in den westlichen Diensten und die berichteten über die Ermittlungen, bei denen man schnell darauf stieß, dass die CIA da mitgemischt hatte. Das wurde aber unter den Teppich gekehrt, wie bei den Ermittlungen zum Mord am Treuhand-Chef Rohwedder, ein halbes Jahr nach der Deutschen Einheit. Und als der Mitwisser und Terrorist Grams in Bad Kleinen erschossen war, wurden all diese Spuren zu den Akten gelegt.

    Der Rohwedder war doch ebenso eine Gefahr für die angloamerikanischen Machthaber und ihre transatlantischen Eliten, denn er hatte komplexe wirtschaftspolitische Konzepte entwickelt, die mit den finanzpolitischen von Herrhausen kongruent waren: Sie setzten auf sozialverträglichen Wandel und auf eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem ehemaligen RGW-Raum, denn da gab es immense Potenziale und schon lange vielfältige, aber durch CoCom behinderte Kooperationen großer Unternehmen.

    Diese neue eurasische Wirtschaftsstrategie störte die westliche Hegemonialmacht gewaltig – und der schon bei unseren russischen Freunden angesprochene Kampf um Deutschland wurde durch die Abschüsse dieser wichtigsten Protagonisten des Wandels entschieden.

    Anschließend übernahmen amerikanische Schoßhündchen das Ruder und es gab einen von den transatlantischen Agenten in Brüssel und Bonn geförderten, radikalen Kurswechsel.«

    »Das war, so denke ich, der Hauptgrund für die folgenden wirtschaftlichen Katastrophen in Ost-Deutschland – auch einer der Hauptgründe für den wirtschaftlichen Kollaps und die sozialen Verwerfungen in der ehemaligen Sowjetunion«, warf Alexander ein, »denn der Plan Kohls und Gorbatschows, wirtschaftlich intensiv zu kooperieren und sich gegenseitig zu helfen, wurde damit torpediert.«

    »Ja, Alexander, wenn du wissen willst, wer wirklich dahintersteckt, ist doch immer die entscheidende Frage – wem nützt es? Wer hat ein unbedingtes machtpolitisches Interesse daran – und wer ist in der Lage, derart kriminelle Aktionen im Vorfeld und bei den folgenden Ermittlungen perfekt abzuschirmen?

    Aber entschuldigt, ich schweife mal wieder ab, denn wir waren ja bei Dresden – und Putins Rolle. Glücklicherweise konnten wir, auch ich persönlich, in Dresden auf der Seite der Bürgerbewegten gegensteuern, unter die sich Leute der Abwehr gemischt hatten und auf Mäßigung drangen. Wir mussten jeden Eklat mit den Freunden – der faktisch sprungbereiten Militärführung der Sowjetarmee – vermeiden und den friedlichen Charakter der Wende bis zur Deutschen Einheit bewahren.«

    »Ablenkungsmanöver. – Ablenkungsmanöver in Berlin sagtest du im Zusammenhang mit dem Versuch, der in Dresden an Putin scheiterte?«

    »Ja, Samuel, das war eine mit der Staatssicherheit abgestimmte Ventillösung, quasi die Präsentation eines Sündenbockes – um in der Wende vom System der Parteiherrschaft abzulenken, denn eigentlich gab es da schon nichts mehr zu holen. Die wichtigsten Unterlagen waren vernichtet, oder auch – durch Überläufer – westlichen Diensten verkauft worden. Das interessierte uns aber kaum, denn nichts davon betraf unseren Militär-Geheimdienst.«

    Der Oberst schnaufte und schaute zufrieden in die Runde, – fragte noch einmal nach Getränkewünschen und ging leicht hinkend aber beschwingt, als sei nun eine Last von ihm abgefallen, gut gelaunt in seinen Eiskeller.

    Als er wieder am Platz war, brach Samuel das beeindruckt-versonnene Schweigen. Bei erneut laufender Kamera versuchte er den Einstieg in eine Zusammenfassung.

     

    Auszug Ende

Band II  Heimkehr, Teil V–IX

Mit Illustrationen des Autors

541 Seiten

ISBN: 978-3-7427-1117-5

 

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